Schwärmen, schmollen, sich bespiegeln

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (16.01.2007)

Semele, 14.01.2007, Zürich

Nicht neu, aber immer noch schön: Robert Carsens Sicht auf Händels «Semele» bezaubert nun am Zürcher Opernhaus. Und liefert eine perfekte Vorlage für Cecilia Bartoli.

Wie klingt es, wenn eine ehrgeizige thebanische Prinzessin in einen Spiegel schaut? Georg Friedrich Händel wusste es, und Cecilia Bartoli weiss es auch. Vor lauter Begeisterung über die eigene (verzauberte) Schönheit mag sie ihre Musik ebenso wenig loslassen wie den Spiegel selbst. Minutenlang singt sie die gleichen Worte auf die gleiche Melodie und findet doch immer wieder andere Farben und Verzierungen dafür: staunende, selbstverliebte, machtgierige, mädchenhaft verzückte. Wenn es die Da-capo-Arie damals noch nicht gegeben hätte, Händel hätte sie erfinden müssen.

Opernhaftes Oratorium

Die Spiegelarie ist der Wendepunkt in einem Stück, das Händel rätselhafterweise als «Opera after the manner of an Oratorio» bezeichnet hatte. Denn oratorienartig ist wenig in dieser 1744 in London uraufgeführten «Semele»: Vielleicht manche Chöre, vielleicht die sehr plastische,erzählende Musik, die eine Inszenierung zumindest teilweise überflüssig machen kann. Aber das Opernhafte überwiegt bei weitem. Händel war nun einmal ein Urdramatiker (selbst in den wirklichen Oratorien wie «Il trionfo del tempo e del disinganno», das ab heute in Jürgen Flimms erfolgreicher Inszenierung wieder auf der Zürcher Bühne zu sehen ist). Und auch das «Semele»-Libretto, das einst tatsächlich für eine nie realisierte Oper geschrieben wurde, enthält alles, was ein Bühnenstück damals eben brauchte.

Gleich in zwei gängigen Mustern wird die unglückliche Liebe zelebriert: Einmal in der Reihe - Ino liebt Athamas, der Semele liebt, die Jupiter liebt. Und dann im Dreieck: Juno ist gar nicht angetan von der neuen Eroberung ihres Göttergatten Jupiter und sorgt mit besagtem Zauberspiegel dafür, dass Semele in einem Anflug von Überheblichkeit die Unsterblichkeit einfordert und damit ihr Ende besiegelt. So bietet die Geschichte reichlich Möglichkeit für heftige emotionale Kontraste, für Intrigen und Zauberszenen - und für jene kluge Mischung aus Poesie und Witz, die Robert Carsens 1996 in Aix-en-Provence erstmals gezeigte Inszenierung prägt.

In einem einzigen hohen, kaum zufällig abschüssigen Raum (Patrick Kinmonth) spielt das Stück. Hier läuft der rote Teppich zu jener Tür, hinter der Semele den Athamas heiraten soll, was sie in einer hinreissend choreografierten Eröffnungsszene dann eben doch nicht will; hier packt die rabiate Juno Gummistiefel in einen Koffer, um sich für ihren Rachefeldzug auszurüsten; und hier spielt Semele mit jenem Mondballon, der ihre Sehnsucht nach Unendlichkeit ebenso treffend symbolisiert wie die grosse Einsamkeit ihrer Liebe.

Exzessfreudige Bartoli

Cecilia Bartoli zeigt in dieser poetischsten Szene des Abends, wie ruhig sie wirken kann. In anderen allerdings hält sie sich ganz an Semeles Motto: «No, no! I’ll take no less / than all in full excess.» Exzessiv und mit vollem Körpereinsatz liebt und schmollt sie, und ihre Stimme ist dabei so wandlungsfähig wie ihr Gesicht. Ganz leise kann sie singen oder extrem übermütig (ohne je laut zu werden); ihre Koloraturen scheinen sich immer wieder zu verselbstständigen - so frei, so spontan wirken sie. Bartoli überzeichnet, ohne zu karikieren: die ziemlich teenagerhafte Liebe dieser Semele zu Jupiter, ihre Anmassung, ihren Schmerz, als sie merkt, dass sie zu weit gegangen ist. Ganz still stirbt sie zuletzt (und noch einmal ist die Geschmackssicherheit Carsens zu loben, der auf eine Illustration von Jupiters Blitzen verzichtet hat).

Dennoch ist diese Oper keine reine Bartoli-Oper. Zu stark ist auch der Rest des Ensembles: Charles Workman - der einzige im Team, der seine Rolle schon früher gesungen hat - ist ein sehr menschlicher Jupiter, der seinen hohen Tenor weniger zum Donnern als zum Verführen einsetzt. Dass er seiner Juno aus dem Weg geht, kann man verstehen; Birgit Remmert gibt eine grandiose Intrigantin, ihre Blicke und ihr Wagner-geschulter, aber doch ungemein Händel-gerechter Alt prädestinieren sie weit eher zur Blitzeschleuderin als ihren Gatten. Kieksend feiert sie am Ende ihren Triumph über Semele und führt damit vor, wie sehr es sich bei Händel lohnen kann, nicht nur schön zu singen. Noch lustiger ist nur ihre Dienerin, die altjüngferliche Iris, die Isabel Rey mit glockenhellem Sopran und akrobatischen Slapstick-Einlagen verkörpert (wie sie auf die Stuhllehnen hüpft! In diesen Schuhen! Und dann noch singt!)

Besser kann man Händel nicht spielen und auch nicht singen (auch die weniger prägnant, aber immer noch hochkarätig agierenden Darsteller haben den Applaus an der sonntäglichen Premiere verdient: Liliana Nikiteanu, Thomas Michael Allen und Anton Scharinger). Und selten weiss ein Regisseur auch mit dem Chor so viel anzufangen wie hier. Individuell und erstaunlich natürlich werden die Sängerinnen und Sänger geführt, ohne dass dabei die klangliche Kompaktheit aufs Spiel gesetzt würde.

Glanz und Wärme

Superlative schliesslich sind auch für die Orchesterleistung angesagt: Was der Dirigent William Christie mit dem operneigenen Ensemble La Scintilla anstellt, ist ebenso durchdacht wie mitreissend. Händel hat in diesem Werk auffallend oft die standardisierten Formen aufgelöst, und Christie weiss die Freiheiten zu nutzen; beweglich klingt die Musik bei ihm, immer wieder überraschend auch, ohne dass er interpretatorische Knallpetarden zünden müsste.

Die Momente, in denen Händel szenisch komponiert hat - beim donnernden Auftritt Jupiters oder wenn Juno der überdrehten Iris über den Mund fährt -, lässt er sich zwar keineswegs entgehen; aber entscheidender ist die schwebende Balance, die er zwischen Bühne und Orchester, zwischen Glanz und Wärme, zwischen heiteren und melancholischen Tonfällen zu schaffen weiss. Sozusagen schwindelfrei führt er durch die Partitur und bringt damit jene Händelsche Spezialität zur Geltung, nach der ein melodischer Einfall oft erst aus dem Zusammenspiel verschiedener Partien entsteht. Das Happyend, das in dieser Oper wie in so vielen ihrer Zeit nur dank einer dramaturgischen Spitzkehre zu Stande kommt, ist so zumindest musikalisch ein echtes.

Bartoli und die Fotografen

Ihrem Publikum gegenüber hält sich Cecilia Bartoli schauspielerisch nicht zurück, bei den Fotografen ist sie zugeknöpfter. Veröffentlicht werden sollten bei der «Semele» nur Bilder, die sie zuvor abgesegnet hat - selbst wenn sie in der offiziellen Fotoprobe gemacht worden sind. Wir haben uns deshalb entschieden, kein Bild zur Zürcher Premiere zu bringen. Und halten fest, dass es sehr schöne gegeben hätte.