Kuss und Schluss

Eleonore Büning, Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.02.2007)

Die Zauberflöte, 17.02.2007, Zürich

Ein Stück, das so oft gegeben wird wie Wolfgang Amadeus Mozarts „Zauberflöte“, sollte alle sechs Jahre erneuert werden, damit es nicht in Repertoireroutine untergeht. Dies erklärt Zürichs bunter Intendantenvogel Alexander Pereira nach der Premiere. Wenige Häuser können sich heute noch den Luxus solcher Regeln leisten. Kurz vorher hatte man, zu den Flötenklängen der Wasserprobe im zweiten Finale, eine Luxus-Limousine ersaufen sehen, natürlich nur als Videoeinspielung. Tamino und Pamino befreiten sich tapfer in letzter Minute. Auch dieser locker-flockige Umgang mit Productplacements ist zürichspezifisch und noch lange nicht jedes Opernhauses Sache.

Und es war spät geworden. Das lag vor allem an Nikolaus Harnoncourt, der bereits zum dritten Mal eine „Zauberflöten“-Produktion musikalisch betreute. Er bevorzugt mittlerweile so altmeisterlich manierierte Tempi, lässt sich so genussvoll ein auf wonnevoll ausgekostete Verzögerungen, molto ritardando zelebrierte Längen und subito accelerando plazierte Stauchungen, dass es nicht nur zu enorm vielen Wacklern kam, sondern unterm Strich auch zu einer satten Verlängerung. Selbst ihr „nur geschwinde“ müssen Pamina und Papageno so langsam zelebrieren, quasi im Stehen, dass Monostatos die Flüchtenden ganz gemütlich wieder einfangen kann. Für weitere Staus sorgt Martin Kusej. Er hat sich erstmals mit der „Zauberflöte“ befasst und ist, wie die meisten Regisseure, zunächst über das Problem mit der schikanederschen Dialogfassung gestolpert.

Mädels in Satin-Negligés

Kusej strich nichts weg, er dichtete hinzu. Ausführlich erzählen sich Papageno und Tamino bei ihrem ersten Treffen die jeweiligen Familiengeschichten. Der vogelmistbekleckerte Dreckspatz entdeckt im smarten Prinzen sein spiegelbildliches Ebenbild und umgekehrt. Die drei allwissenden Knaben vervielfältigen sich zu einer kompletten Kindergartengruppe, die bedächtig mit zahmen Raben schmust. Drei hübsche Mädels in Satin-Negligés liegen gefangen und gefoltert in den unterirdischen Gewölben von Sarastros Palast, sie berichten vom Schicksal der soeben als Frischfleisch eingelieferten bräutlichen Jungfrau Pamina. Und immer wieder dreht sich die Bühne und gibt neue Blicke frei ins mausgrau gekachelte Gedankenlabyrinth.

Es sind trübe Aussichten, die uns Bühnenbildner Rolf Glittenberg bietet: Gefallene Soldaten liegen vor Stalingrad im Schnee, in einem Lebensmittellager werden tote Hühner gerupft, eine schlagende Verbindung rüstet sich zum Turnier. Schwarze Kumpels mit Riesenäxten und Chirurgen mit blutbeschmierten Gummischürzen hausen hinter den mattglänzenden Flughafenklotüren, die überall in die kalten Kachelwände eingelassen sind. Wer sie öffnet - wenn sie sich denn öffnen lassen - der tappt ins Unheil.

Zäher Trauerkloß

Kusejs Lesart der „Zauberflöte“ verwandelt die Handlung aus einer schnellen Maschinenkomödie in einen zähen Trauerkloß. Pamina und Tamino müssen diesen Albtraum rückblendenartig gemeinsam durchstehen. Schon bei der vom Zürcher Opernorchester dünn und bedächtig zelebrierten Ouvertüre stehen die beiden trauungsbereit an der Rampe herum - sie mit Schleier, er im Smoking. Nach dem Hochzeitskuss hebt sich der Zwischenvorhang, Tamino fällt in die von schwarzen Nattern (und halbtoten Statisten) übersäte Schlangengrube, die Geschichte nimmt ihren Lauf. Am Ende stehen die beiden dann wieder ganz genauso da, als wäre nichts gewesen: Kuss und Schluss. Diese blasse, von Zweifeln zernagte Lösung setzt sich freilich in bewussten Widerspruch zu der vitalen Botschaft der schlicht-komplizierten Musik Mozarts, die gerade in den kontemplativen Ensembles - etwa dem ersten Quintett, dem Pamina-Papageno-Duett oder den beiden Abschiedsszenen - eine Apotheose des Menschseins feiert: Hier gilt's der Liebe, hier grünt eigentlich des Lebens Baum im Hier und Jetzt.

Höchstens einmal in der filigranen Kleinarbeit an den Wortwitzen und in einigen Slapstickwendungen lässt Kusej etwas von dem Stegreif-Ulk einer Vorstadttheaterkomödie aufblitzen. Die drei den Tamino mit einem Fingerschnipp rettenden Damen sind beispielsweise blind, da sie aus dem ewigen Dunkel kommen. Sie gehen ganz nach Geräusch. Papageno, der sonst auch mal Switzerdütsch parliert, versucht, ihnen stumm auf Zehenspitzen zu entkommen, doch zielsicher versiegeln sie mit drei Küssen seinen Mund. Auch ihre Herrin, eine allenfalls mattglänzende Königin der Kellerasseln, lebt in ewiger Nacht. Spektakulär absolviert sie im zweiten Aufzug ihren Auftritt direkt aus dem Kühlschrank: Gerade eben noch holte Monostatos sein Bier heraus, da weht schon ein lautes Aufrauschen der Windmaschine die böse Schöne zur Rachearie aus dem Tiefkühlfach herbei. Auch, dass die drei Damen zum belehrenden Quintett plötzlich sehend werden, die Sonnenbrillen lüftend, ist solch ein intelligenter, kleiner Gag.

Anrührende Effekte

Gewiss kann Kleinvieh auch Mist machen. Viele der feinmaschigen Dynamik- und Tempotüfteleien Harnoncourts erzielen anrührende Effekte, nicht alle superschlauen Miniwitze Kusejs verpuffen ins Leere. Doch den großen Wurf einer „Zauberflöte“, die die Uhren anhält, den Atem verschlägt und vergessen macht, wie die Zeit vergeht - den blieben die beiden den Zürchern schuldig.

Dabei wurde bis in kleine Rollen tadellos gesungen. Herausragend gab beispielsweise Andreas Winkler den Sprecher sowie - in komischer Elvis-Pose - den ersten Geharnischten. Aus dem Ensemble besetzt auch die Partie der nächtlichen Königin, famos gesungen von Elena Mosuc, die ihre Koloraturpassagen stahlglänzend absolvierte, sowie der klar prononcierende Papageno des jungen Ruben Drole, der auch in den von Harnoncourt geforderten Pianissimo-Passagen noch mit voller Ausdrucksintensität präsent blieb. Als Pamina strahlte Julia Kleiter souveräne Sonnenwärme aus, und als Tamino triumphierte der kurzfristig eingesprungene Jonas Kaufmann mit gewaltiger, metallklarer Tenorwucht. Eva Liebau imponierte zwar nur kurz, aber reizend als Papagena, Rudolf Schaschnigg als heiser flüsternder Mohr und Matti Salminen in bewährter Statuarik als Sarastro.