Tragödie in der Spassgesellschaft

Hanspeter Renggli, Der Bund (27.02.2007)

La Traviata, 25.02.2007, Bern

Mariame Clément inszeniert Giuseppe Verdis Oper «La traviata» am Stadttheater Bern

Ein Wechselbad an szenisch eindringlichen und musikalisch teils bemerkenswerten, aber auch szenisch phantasiearmen Momenten kennzeichnen die neue Inszenierung.

Die Lebensaktualität, die Giuseppe Verdi in «La traviata» im Nebeneinander von Geld und Krankheit, von Pariser Flitterglanz und bürgerlicher Wohlanständigkeit zur Darstellung bringt, hat die Menschen seit je berührt. Vor allem aber veredelte der Komponist diese Mischung aus bürgerlichem Drama und antiker Tragödie mit einer Musik, die selbst in den Augenblicken menschlicher Extremsituationen schlicht und unmittelbar wirkt.

Intimes Finale

Eindringlich, berührend und sehr differenziert führen Srboljub Dinic, der Chefdirigent des Stadttheaters, und das Berner Symphonie-Orchester durch den letzten Akt, eines der intimsten Finale der Operngeschichte. Das Zerbrechliche der hohen Streicher und ihre Kantilene zum Tode am Anfang, die Klage der Oboe und das letzte fieberhafte Aufeinandertreffen des Liebespaars, in ihnen schöpfen Dinic und das Orchester die gesamte Palette von Verdis dramatischer Klang- und Melodienpalette feinsinnig aus. In den ersten beiden Akten haben insbesondere die Chorpartien, die nicht bloss einmal tüchtig wackelten, sowie die schnellen Schlusssätze der Arien noch recht pauschal geklungen.

Überragende Corinna Mologni

Das Frauenporträt der Violetta Valéry, das musikalisch von der extrovertierten Arie «Sempre libera» am ersten Aktende bis hin zur hoffnungslosen Klage «E tardi» der Sterbenden alle denkbaren Ausdrucksformen ausmisst, erhält durch Corinna Mologni einen eindrücklichen Charakter.

Mologni differenziert jede Phrase und gestaltet die Bögen derart feingliedrig, dass man sich wünschte, die instrumentale Begleitung sowie die Sängerpartner wüssten darauf mit ebensolcher Feinheit zu reagieren. Molognis Spitzentöne sind nicht bloss sängerische Glanzleistungen, sie sind musizierte Freuden- respektive Ohnmachtsschreie. Nicht allein, dass ihre zahlreichen Triller und Koloraturen stimmlich brillant gelingen, Mologni verleiht ihnen auch den entsprechenden szenischen Sinn, hier als künstliche Vordergründigkeit, dort als tiefster Ausdruck des Scheiterns. Das stimmliche Verlöschen am Ende bewegt.

Mangelnde Körperspannung

Juan Carlos Valls als ihr Verehrer Alfredo Germont vermag Corinna Mologni hinsichtlich des geforderten Ausdruckswechsels nicht immer zu folgen. Während die lyrischen Bögen wie beispielsweise im Schlussduett («Parigi, o cara») dicht und warm, die Spitzen kaum forciert und durchaus strahlend klingen, geraten die parlandoartigen Passagen wie beispielsweise in der Spielszene fast durchwegs ins Abseits und die Kadenzen weisen regelmässig Intonationsturbulenzen auf.

Wäre da noch die mangelnde Körperspannung zu nennen, wie generell gerade er hinsichtlich Personenführung von der Regie mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

Klangreich und von Wärme durchtränkt, so wünscht man sich die dramatisch heikle, weil eher blasse Vaterfigur des Giorgio Germont. Und Marco Chingari erfüllt alle diese Erwartungen.

Es wäre Aufgabe der Regie gewesen, diese bloss auf bürgerliche Konvention ausgerichtete Rolle des Vaters, der seine engen Moralvorstellungen mit «Gott» und «Ehre» untermauert, neu zu deuten.

Peinliche Disco-Gesellschaft

Dass die Regisseurin Mariame Clément die Geschichte in eine heutige Welt der mediengemachten Starlets und einer ebenso gelangweilten wie ins Peinliche verdrehten Show- und Disco-Gesellschaft überträgt, mag als Ansatz (der so neu keineswegs ist) interessant sein.

Leider aber bleibt die Inszenierung dabei stehen. Die vielen kleinen Geschichten, die überraschenden Umdeutungen der Charaktere und die individuelle Personenführung, die Cléments Regie in den Komödien auszeichnete und beispielsweise André Ernest Modest Grétrys «Guillaume Tell» vor einem Jahr im Bieler Theater ein unverwechselbares Gesicht gaben, nach ihnen sucht man diesmal vergeblich.

Ideenloses Bild

Das oberflächlich-dümmliche Showgebaren einer Flora (Silvia Oelschläger) und eines Gastone (James Elliott) mag die Inhaltsleere der Spassgesellschaft nachzeichnen, aus der sich Violetta kaum lösen kann.

Aber das zweite Bild des zweiten Akts, das Mariame Clément und Julia Hansen (Bühnenbild und Kostüme) als Disco für Neu- und Altreiche zeigen, bleibt schlicht bewegungs- und ideenlos - dabei bildet es immerhin die Ebene für die dramatische Klimax, die Folie für das Scheitern von emotional verbindlichen Beziehungen.

Unterkühlte Metaphorik

Das letzte Bild, ein gesichtsloses Spitalzimmer als Violettas Sterbezimmer, wirkt in seiner unterkühlten Metaphorik im Gegensatz zur musikalischen Anspannung hingegen stark.

Dass am Ende das bunte Treiben der ewig gleichen Shows bloss noch über den Bildschirm in Violettas Zimmer lärmt, ist zumindest konsequent. Die musikalisch ansprechende, in manchen Augenblicken hochstehende Produktion hätte szenisch eine ausdrucksstärkere Umsetzung verdient.