Verdi-Oper gespielt als Talkshow

Frank Gerber, Berner Zeitung (27.02.2007)

La Traviata, 25.02.2007, Bern

«Traviata» im Stadttheater: Die Regie wagt viel und gewinnt teilweise. Das Orchester setzt auf sicher und kommt unfallfrei durch. Die Hauptdarstellerin haut das Publikum vom Hocker, stimmlich und darstellerisch.

Bern hat einen neuen Star. Es ist Corinna Mologni in der Rolle der Violetta. So begeisternd hat man die singende Kameliendame noch nie gesehen – und schon sehr lange nicht mehr gehört. Das hat sich offensichtlich schon vorgängig herumgesprochen, jedenfalls war die Premiere am Sonntag nicht nur ausverkauft, sondern überbucht.

Verdis «La Traviata» ist eine Star-Oper. Kein anderes Stück Musiktheater steht oder fällt so stark mit der Besetzung der Titelrolle. Violetta, eine Pariser Kurtisane, verliebt sich in den Gutbürgerlichen Alfredo. Dessen Vater ist gegen die Liaison. Er überredet Violetta dazu, Alfredo fallen zu lassen, weil sie sonst die ganze Familie kompromittiere. Violetta gibt nach, todkrank. Erst am Totenbett kommt es zur Versöhnung der drei.

Ausdrucksstark

Corinna Mologni singt die Liebesgeschichte mit einer enormen Bandbreite an stimmlichem Ausdruck. Hysterisch, verzweifelt, abgeklärt, sanftmütig. Ist alles drin. Auch wunderschöne leise Töne. Die fallen besonders auf neben Marco Chingari als Vater Germont, der nur Forte und Fortissimo kennt. Juan Carlos Valls als Geliebter Alfredo gefällt darstellerisch mit seiner eindrücklichen Wandlung vom schüchternen Aussenseiter, der nicht richtig in die Festgesellschaft passt, über den stolzen Ex hin zum weinenden Jungen vor dem Scherbenhaufen.

Risikolos

Das Berner Symphonie-Orchester unter Srboljub Dinic hält nicht ganz mit der breiten Ausdruckspalette der Primadonna mit. Die Walzer und die Sechsachtel warten noch auf ihre Befreiung. Möglicherweise war für die Premiere Sicherheit das oberste Gebot. Vielleicht wird in den nächsten Vorstellungen die Risikobereitschaft grösser und das Spiel freier.

Den Mut zum Risiko hat dagegen Mariame Clément. Die Regisseurin hat in der letzten Spielzeit mit Rossinis «Il Viaggio a Reims» den Höhepunkt der Saison inszeniert. Entsprechend hoch sind die Erwartungen. Und der erste Akt der «Traviata» verspricht, sie einzulösen. Clément macht aus der Pariser Kurtisane eine «öffentliche Frau» von heute: Violetta ist die Moderatorin einer dämlichen Talkshow im Privatfernsehen.

Unerklärt

Doch schon im zweiten Akt wirft Clément die Neuinterpretation über den Haufen. Das Liebespaar hat sich aus der Hauptstadt zurückgezogen. Der Raum: Halb Hotelprospekt von den Malediven, halb Deko-Überbleibsel von der letzten Türkenoper. Dahinein platzt Papa Germont, um die junge Liebe zu unterbinden. Steif, austauschbar mit jeder x-beliebigen Provinzinszenierung. Was hat Germont gegen die prominente Freundin seines Sohnes? Weshalb gibt die Karrierefrau dem schwiegerväterlichen Wunsch nach Trennung nach? Die Regie gibt keine Antwort.

Spielfreudig

Doch nur dieses Bild fällt aus dem Rahmen. Kaum ist der Spielort wieder Paris, sind Clément und die Kostüm- und Bühnenbildnerin Julia Hansen wieder in ihrem Element. Das zweite Fest findet in einem Club statt. Mit DJ, Bar und Chillout-Room. Da ist der logische Anschluss wieder gegeben. Und der Chor erhält tolle Spielmöglichkeiten als Cervelat-Prominenz und halbweltige Discobesucher. – Der Erfolg beim Publikum war gross. Tickets dürften rar werden.