Saal-Voting positiv, Kritik negativ

Christian Berzins, Mittelland Zeitung (27.02.2007)

La Traviata, 25.02.2007, Bern

Stadttheater Bern Verdis «Traviata» wird trotz wackliger Inszenierung von Mariame Clément und einer stimmlich überforderten Titelfigur stark bejubelt. Dem Publikum gefiel die Versetzung in die TV-Welt.

Das Publikum hat immer recht. In der Oper wie in der TV-Casting-Show «Music Star». Fragt sich nur, wie man seine Gunst misst, wenn keine elektronischen Voten von 1 bis 10 gegeben werden können. Im Opernhaus gilt nun mal der gute, alte Applaus. Und diese Art Benotung fiel am Sonntagabend in Bern für alle sehr positiv aus › umgerechnet auf «Music Star»-Noten zwischen 7 und 9,5. Eine Jury gibt es in der Oper nicht, diese Zeitungskritik soll sie simulieren. Die Noten fallen tief aus, reichen von 3 bis 7.

Von vornE. Zu den ersten Takten der Ouvertüre, die das Orchester unter der Leitung von Chefdirigent Srboljub Dinic spielte. Selten, oder wenn, dann bloss im schlechten Film, hörte man diese Takte so schnulzig lyrisch, so romantisierend aufgebauscht; der Einsatz der berüchtigten Begleitfiguren klang so trotzig betont, fern des natürlichen Flusses, dass sich darüber keine runde Bewegung mehr legen konnte. Der Fluss stockte. In der Folge wartete Dinic gebannt auf jeden Forte-Ausbruch, den er schwungvoll heiter hinter sich brachte (Note 5). Bald setzte der Berner Chor ein und verwackelte auch gleich seinen zweiten Einsatz (Note 4).

Nicht alle Solisten machten es besser: Juan Carlos Valls Tenor wollte zu Beginn noch wenig Volumen annehmen, diesem Alfredo-Interpreten mangelte es an dynamischer Variabilität und Glanz. Nur in höheren Fonstärken stellte sich ein wohltuendes Beben ein; interessanterweise war im letzten Akt das anfänglich Vermisste zu hören, womit wir den weiteren Vorstellungen erwartungsvoll entgegenhören (Note 7). Marco Chingari gab den Vater Germont seriös, aber ziemlich eintönig (Note 4). Doch die höchste Punktzahl im Saal-Voting erhielt die Primadonna des Abends, Corinna Mologni. Wer nicht auf dieses Saal-Voting vertraut, muss über die Besetzung dieser Sängerin staunen (Note 3). So viele Stellen, in der die Stimme nicht mehr klingt, so viele Noten, die falsch intoniert waren und falsch intoniert blieben, so viele Passagen, die farblos klangen. Am Anfang der Sterbeszene haucht Mologni eindrücklich sprechend. Dann aber lässt Verdi seine Violetta musika- lisch noch einmal auferstehen, schenkt ihr ein paar Takte des lyrischen Glücks. Mologni bindet kaum drei Töne aneinander, bringt keinen tragenden Klang mehr hin und rettet sich erneut ins Deklamieren. Erstaunlicherweise war aber auch ein Aufbäumen zu beobachten, das bis zur eindrücklichen theatralen Selbstentäusserung führte.

Kurz in Erinnerung bleiben wird diese «Traviata» vielleicht noch wegen der Regie (Note 4). Die 33-jährige Mariame Clément versetzt die Oper um die Edelprostituierte Violetta nämlich in die böse Fernsehwelt (Bühne Julia Hansen), wo es vermeintlich mehr Marionetten als Menschen gibt. Die Titelfigur ist Mittelpunkt der TV-Show «Violetta» › also eine erfolgreiche Frau. Violetta wird vom Publikum geliebt, gibt Autogramme . . . und ist naturgemäss unglücklich. Ihre Freiheit ist in Gefahr! Ein Mann will sie ihr stehlen: mit Liebe, die sie entgegnet. Für die Verdi-Figur, die freilebende Kurtisane, mag das geschäftsschädigend sein. Aber warum soll die Berner Figur, eine Fernseh-Frau, sich nicht an einen (reichen) Mann binden und mit ihm aufs Land abhauen? Warum soll sein Papa auf einer Trennung bestehen? Da die Beziehung Alfredo-Violetta für dessen Tochter eine Schande ist? Doch der «Beweis» für diese These steht im Programmheft: Die Reeder-Familie Niarchos wehrte sich auch gegen die Liebe ihres Sohnes zu Paris Hilton.

So weit, so konstruiert. Das Gerüst dieser Regie ist wackelig, die Kritik an der Fernsehwelt klischiert: Die Idee, die im 1. Akt aufgebaut wird, verliert sich im Folgenden. Die Regisseurin findet keinen überzeugenden Weg. Kein Wunder: Das Fantastische, das Ureigene des Theaters, wird vergessen: Zu genau will etwas nachgespielt werden, was der Text (geschweige denn die Musik) nicht hergibt. Und bevor man die grossen Ideen hat, sollten die drei Protagonisten (und nicht nur die Statisten in den Massenszenen) zum szenischen Leben erweckt werden: Hilflos steht das Solisten-Trio ab dem 2. Akt im Raum, nie entsteht Spannung zwischen den Figuren.

Fazit: Viel Lärm um wenig. Vielleicht wie in einer TV-Show?