Der Salon wird zur TV-Welt

Oliver Senn, Tages-Anzeiger (27.02.2007)

La Traviata, 25.02.2007, Bern

Ein junges Team inszeniert Verdis «Traviata» in Bern in der kühlen Ästhetik des 21. Jahrhunderts - eine gelungene Vergegenwärtigung.

Violetta Valéry, die Protagonistin von Giuseppe Verdis Oper «La Traviata», moderiert in Mariame Cléments Inszenierung am Berner Stadttheater eine seichte Dating-Show am Fernsehen. Die Stimmung im Studio ist überdreht, der Prosecco fliesst, man feiert die Produktion der 100. Sendung. Ein Schwächeanfall der Moderatorin lässt die Fassade der künstlich erzeugten Heiterkeit bröckeln, die Liebeserklärung des naiven Provinzlers Alfredo verunsichert das Starlet zusätzlich: Ist es möglich, der glitzernden Einöde dieser medialen Scheinwelt zu entfliehen?

Ja, sagt der zweite Akt. Er zeigt Violetta und Alfredo drei Monate später in einem orientalisch anmutenden Landhaus. Violetta hat ihre Fernsehkarriere an den Nagel gehängt, Alfredos Zuneigung und die provinzielle Abgeschiedenheit lassen sie und ihre Gesundheit neu erblühen. Die Ankunft von Alfredos Vater bereitet dem Idyll jedoch ein jähes Ende. Er macht Violetta herbe Vorwürfe, weil ihre Affäre der Familie schade, und bewegt sie dazu, Alfredo zu verlassen. Violetta kehrt zurück in die Halbwelt der Partygesellschaft.

Der letzte Akt der Berner Inszenierung zeigt Violetta in der unpersönlichen Sichtbetonwüste eines modernen Spitals. Violettas Krankheit, keine Tuberkulose, sondern möglicherweise ein Krebs, ist in ihrer letzten Phase. Violetta durchlebt noch einen kurzen Moment des Glücks mit Alfredo und seinem Vater, der den Liebenden endlich seinen Segen gibt - zu spät allerdings: Nachdem sich ihre Lebenskräfte ein letztes Mal aufgebäumt haben, stirbt Violetta einen schnellen Tod.

Berührende Hingabe

Die französisch-iranische Regisseurin und ihre Bühnenbildnerin Julia Hansen haben in Bern schon mit einer amüsanten Version von Rossinis «Il viaggio à Reims» Aufsehen erregt, nun gelingt ihnen auch die Vergegenwärtigung der «Traviata»: Der schöne Schein der Fernsehwelt spiegelt die mondänen Salons des Dix-Neuvième auf raffinierte Weise wider. Und die nackten Betonflächen zeigen die Protagonistin in ihrer ganzen Verwundbarkeit: Corinna Mologni verkörpert die Titelfigur mit schauspielerischer Präsenz und berührender Hingabe. Ihr Gesang zeigte anfangs leichte Unsicherheiten, gewann aber im Laufe des Premieren-Abends an Kontur und vermochte im letzten Akt sogar einige der textlich allzu sentimentalen Passagen mit Sinn zu füllen.

Juan Carlos Valls gibt einen ehrlichen, souveränen Alfredo, auch wenn er am Sonntag nicht ganz die musikalische Differenziertheit von Mologni erreichte. Problematischer wirkt die Rolle des Vaters: Bariton Marco Chingari verfügt zwar über eine grosse Stimme, die er auch effektvoll einsetzt. Die Regie wusste mit seinem Charakter aber offensichtlich nicht viel anzufangen. Chingaris etwas hölzernes Spiel konnte man anfangs durchaus als ländliche Biederkeit interpretieren. Bald jedoch wurde klar, dass die Motivation dieser Figur dunkel bleiben wird: Weshalb soll es für einen Familienvater heute problematisch sein, wenn sein Sohn eine Liaison mit einem ehemaligen Fernsehstarlet eingeht? Wir erfahren es nicht.

Alles in allem ist dem Team Clément/Hansen eine berührende, aktuelle «Traviata» gelungen; das Berner Symphonie-Orchester, der Chor des Stadttheaters Bern und das Gesangsensemble realisierten unter der Leitung des Stadttheater-Chefdirigenten Srboljub Dinic eine auch musikalisch hoch stehende Aufführung.