Liebe und Triebe - der Bär ist los

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (13.03.2007)

Le Nozze di Figaro, 11.03.2007, Zürich

lle wollen sie offenbar nur das eine: ihre Triebe befriedigen. Auch wenn sich diese unter dem (züchtigen) Deckmantel der Liebe verbergen. Sven-Eric Bechtolf inszenierte das mit federleichtem Tiefsinn.

Bereits seinen «Don Giovanni» in der vergangenen Spielzeit hat Sven-Eric Bechtolf daraufhin angelegt - auf die erotisch-sexuelle Potenz, die den Mann unablässig von Frau zu Frau treibt und die Frau zum Jüngling und Mann. Auf das Getriebensein durch die Triebe läuft alles hinaus. Daraus, aus dem Zwiespalt zwischen dem Ausleben und Unterdrücken solcher Triebe, resultieren die Freuden und Nöte, die beide in die Anarchie führen können, auch in Mozarts «Le Nozze di Figaro».

Und wiederum kein Spiel im tändelnden Rokoko-Ambiente, sondern in unserer Zeit. Rolf Glittenberg schaffte dafür einen weiten Bühnenraum - im ersten Akt die Dienstbotenkammer von Figaro und Susanne, wobei die herumstehenden Kisten es verraten (und viel Anlass für Versteckspiele geben): Man ist erst am Einziehen. Im zweiten Akt ein grosser Salon der Gräfin mit drei grossflächigen Sitzgelegenheiten, auf denen die Akteure unversehens auch mal in Schräglage, also zum Liegen (und zuweilen gar zum Erliegen) kommen.

Der dritte Akt spielt im Theater des gräflichen Schlosses: ein kleines Parkett mit Zuschauersitzen, die mit staubabwehrenden Tüchern bedeckt sind, dazu eine veritable Kleinbühne im Hintergrund, wo das verwirrliche Spiel zwischen den Stühlen gleichsam reflektiert oder überhöht wird. Im vierten Akt - einer Gartenszene - beherrschen «Chilbi»-Pferdchen die Szenerie, und es kommt folglich denn auch zu veritablem «Rössli-Riite» in des Wortes doppelter Bedeutung. Hier ist in der Tat, und leibhaftig zu sehen, der Bär los.

Hart im Nehmen

Sven-Eric Bechtolf inszeniert das gleichsam auf doppeltem Boden. Da sind einerseits die turbulenten Nöte aller ins verwirrliche Spiel um Liebe und Triebe verwickelter Personen, alles federleicht in Szene gesetzt und trotz aller oberflächlichen Turbulenzen nie in Klamauk ausartend. Denn gleichzeitig wird immer etwas abgrundtief Existentielles spürbar, ein dunkler Untergrund menschlicher Bedingtheit: Alle sind wir unseren Trieben ausgesetzt, machtlos irgendwie und auch verletzlich.

Entsprechend hart müssen sie manchmal sein im Nehmen, Figaro und Konsorten, und sie geben hart zurück. Liebe ist hier eindeutig eine handfeste Angelegenheit: wenn die Gräfin dem Cherubino mit zitternden Fingern die Gürtelschnalle öffnet und ihm die Hose auszieht. Wenn sie ihm, der hilflos mit nackten Beinen vor ihr liegt, schwarzseidene Frauenstrümpfe anzieht - Lust, die an Perversion grenzt? Oder Perver-sion als das ureigene (ureigentümliche) Feld jeder Lust?

Latin Lover Macho

Wohl beides zugleich und jede Menge Changieren dazwischen. So jedenfalls spielen sie es - und spielen es alle eminent gekonnt. Erwin Schrott, der als Figaro bereits eine Senkrechtstarter-Karriere gemacht hat, ist ganz Latin Lover Macho, athletischer Angeber und viriler Schmusekater, und genau so singt er, mit dunkel kernigem, muskulösem Bassbariton, dass es einem Hören und Sehen verschlagen könnte. Eine Traumbesetzung. Das gilt auch für Martina Janková, die als Susanna debütiert: keck, agil und (hinter-)listig, obwohl ihr kristallklarer, wunderbar leichter Sopran kein Wässerchen zu trüben können scheint.

Auch Malin Hartelius gibt als Gräfin ihr Rollendebüt: eine junge Frau von edler Ausstrahlung und gleichzeitig schelmischer Attitüde - mit ebenso edlem Legato in ihren beiden Arien und einem augenzwinkernd-balsamischen Klang im Briefduett mit Susanna, diesem vielleicht kostbarsten musikalischen Kleinod der ganzen Partitur. Der Herr Graf wiederum liebt es, sich aufzuspielen und auch mal zu zaubern: Michael Volle tut das mit aufgedrehter Herrscherlaune (und wehleidiger Larmoyanz) in Stimme und Spiel. Ein Sonderlob verdient Judith Schmid als Cherubino: resolute junge Sängerin, die einen flaumig jungen Mann darstellt und sich, im Verlauf der tollen Handlung, als junge Dame verkleiden lassen muss. Super gespielt mit allen Facetten sinnenverwirrender Erotik - und wunderschön gesungen. Irène Friedli als resolute Marcellina, Carlos Chausson als auftrumpfender Bartolo und Eva Liebau als weiss Gott liebenswertes Flittchen Barbarina sowie Martin Zysset (Basilio), Andreas Winkler (Don Curzio) und Giuseppe Scorsin (Antonio) ergänzen das Ensemble alle auf vorzüglichem Niveau.

Konzentrat statt Sosse

Franz Welser-Möst dirigiert - mit seckem Brio und straffer Brillanz bereits in der Ouvertüre, klanglich stets aufs Konzentrat bedacht statt auf sossige Romantizismen. Entsprechend scharfen Schmiss haben die dreinfahrenden Akkorde, ohne spritzende Kleckser. Heiterkeit und Trauer klingt zu gleichen Teilen aus seinem Mozart; jede physische Regung der Bühnengestalten gelangt im Orchester zu sprechendem Ausdruck. Mit gutem Gespür auch für die Sinnlichkeit, ja Körpernähe dieser Musik entfalten sich unter seinen Händen alle emotionalen Doppelbödigkeiten und seelischen Abgründe dieser Komödie, ganz aus einem natürlichen Spielfluss heraus. - Begeisterter Beifalljubel für alle Mitwirkenden, besonders für Sven-Eric Bechtolf.