Elisabeth Feller, Mittelland Zeitung (13.03.2007)
Sven-Eric Bechtolf inszeniert Mozarts «Le Nozze di Figaro» mit einem starken Ensemble.
Der Interpretensport treibt wilde Blüten bei der Oper «Le Nozze di Figaro». Der Librettist da Ponte und der Komponist Mozart haben sich auf Beaumarchais’ Komödie «Ein toller Tag» gestützt, haben ihr aber die politischen Eckzähne gezogen. Geblieben ist der aufmüpfige Witz der Vorlage; neu dazugekommen sind mannigfache Liebesirrungen.
Mozart hat dafür eine psycho- logisch feinsinnige Musiksprache gefunden, die auch pralle Situa- tionskomik nicht scheut. Ist seine Oper demnach «Welttheater der Liebe», wie der Regisseur Walter Felsenstein behauptet, oder Gesellschaftskomödie. Muss sich ein Regisseur für das eine oder andere entscheiden? Nein. Er kann mit beidem spielen, falls er ein Regie-Equilibrist ist und Sven-Eric Bechtolf heisst.
Erneut kommt diesem Regisseur zupass, was schon bei seinen vorgängigen Zürcher Inszenierungen aufmerken liess: das aus eigener Schauspieler-Erfahrung genährte eminente Gespür für die Belebung selbst riesiger Räume durch Sängerinnen und Sänger, die ihre Rollen fesselnd verlebendigen. Bechtolf ist ein selbstbewusster, aber kein selbstverliebter Regisseur. Die schauspielerischen Mittel gelten ihm ungemein viel, um den einzelnen Figuren ein unverwechselbares Gewicht zu geben. Er weiss, dass sein En- semble im sparsam mit Versatzstücken wie Sofa und Boxen versehenen Einheitsraum spannend agieren und aufeinander reagieren kann. Den in der Oper aufscheinenden Untergang einer Gesellschaftsschicht evozieren Rolf und Marianne Glittenberg (Bühne/Kostüme) mit dessen Situierung in den Dreissigerjahren des 20. Jahrhunderts. Damit rückt die Oper dem heutigen Publikum näher. Ihm dürften die Dreissiger als Umbruchphase mit aufkeimendem Faschismus und Zweitem Weltkrieg sehr wohl bekannt sein.
Unvollendete Naturmalereien an den Wänden verweisen auf das Halbfertige einer neuen, erahnbaren Gesellschaft sowie auf jenen Garten Eden, den sich Mozarts liebestrunkene Paare erträumen. In den Kostümen spiegeln sich Kultur und Klasse ihrer Träger: Figaro tritt vorerst im Unterhemd, dann in Lederjacke auf; Cherubino steckt im lässigen Anzug; der Graf trägt Tennis-Weiss; die Gräfin besticht durch ein silbern-schwarzes Samtkleid.
Dieser optischen Subtilität hält die Regie Tempo und Aktion entgegen, wobei sie souverän die Balance zwischen Verdeutlichung und Ver- innerlichung wahrt. Zum Kabinettstück gerät ihr jene Szene, in der sich Cherubino vor dem Grafen Almaviva verbirgt und er Zeuge von dessen Avancen gegenüber Susanna wird. Als Basilio dazustösst, scheint die Katastrophe perfekt. Cherubino flüchtet › nur dank seinen Füssen erkennbar › als lebende Pappschachtel davon. Diesem aktionsgeladenen Drive steht Verlangsamung gegen- über. Singt die Gräfin mit «Porgi, amor» ihre herb-süsse Cavatina fast bewegungslos, scheint die Zeit still- zustehen. Im Herausschälen von Gegensätzen ist diese Inszenierung ungemein stark.
Was ist Mozarts Oper in Zürich? «Welttheater der Liebe» oder Gesellschaftskomödie? Sie ist beides › und das gleich überzeugend. Die szenische Verve führt das Orchester zuspitzend fort. Franz Welser-Möst fächert die Partitur mit (extremen) dynamischen Gegensätzen auf. Immer wieder lassen prägnante, fast ruppige Akzente sowie ungewohnte Tempi (etwa im Terzett zwischen Graf, Susanna und Basilio) aufhorchen: So frisch hat man Mozart schon lange nicht mehr gehört. Mitunter überbordet die Spielfreudigkeit › bis zum Punkt gelegentlicher Wackelkontakte zwischen Graben und Bühne. Lässlichkeiten, die den bestechenden Eindruck nicht schmälern. Ob Michael Volle (Graf), Malin Hartelius (Gräfin), Martina Janková (Susanna), Erwin Schrott (Figaro), Judith Schmid (Cherubino), Irène Friedli (Marcellina), Carlos Chausson (Bartolo), Martin Zysset (Basilio) oder Eva Liebau (Barbarina): Nicht die Einzelnen, das Ensemble prägt und trägt die Inszenierung. Die Regie wahrt souverän die Balance zwischen Verdeutlichung und Verinnerlichung.