Revolution, Kind der Komödie

Wilhem Sinkovicz, Die Presse (13.03.2007)

Le Nozze di Figaro, 11.03.2007, Zürich

„Figaro“ in Zürich. Franz Welser-Möst und Sven-Eric Bechtolf gelang eine aufregende Neudeutung von Mozarts Meisterwerk aus dem Geiste des Ensemblegedankens.

Es gibt noch so etwas wie Ensemblegeist in der Opernwelt. Zumindest in Zürich. Dort hat sich über die Jahre hin ein junges Sängerteam um den Generalmusikdirektor Franz Welser-Möst geschart, das sich in unterschiedlichsten Stücken der Repertoires als verschworene Künstlergemeinschaft bewährt. Aufführungen von heute sonst kaum erreichter Geschlossenheit sind das Ergebnis einfühlsamer Aufbauarbeit. Wo sonst als bei Mozart sollte sich das in idealer Weise offenbaren? Die „Figaro“-Premiere am vergangenen Sonntag gelang denn auch auf international kaum egalisierbarem Niveau.

Die Hochstimmung, die während des ganzen Abends im Auditorium herrschte, hatte vor allem auch mit dem kleinen Musiktheater-Wunder zu tun, dass es hier gelang, Regiearbeit und musikalische Gestaltung auf das Schönste zu harmonisieren. Wenn dank des Dirigenten Feinschliff von einer in allen Momenten fein schattierten, liebevoll modellierten Aufbereitung der Partitur die Rede sein kann, dann darf dasselbe diesmal auch für Sven-Eric Bechtolfs Regie behauptet werden.

Theater, aus der Musik geboren

Selten ist eine Inszenierung auf Punkt und Komma so nah an den – zuweilen auch gestischen – Vorgaben der Komposition. Mag sein, dass man in vielen Fällen ungebremsten Klamauks an den Rand des Erträglichen geht. Niemals aber wirken die Pointen überzogen, selbst dort, wo ihre Drastik überzuborden scheint, finden sich in den zahllosen orchestralen Aperus die tönenden Entsprechungen zu den theatralischen Aktionen.

Opernbesucher, die sich angesichts der optischen Reizüberflutung unseres Äons noch einen Restbestand von Fantasie erhalten haben und hie und da auch ausschließlich musikalisch bedient werden möchten, sehen sich freilich einem szenischen Kaleidoskop gegenüber, das auch noch die kleinste Ritze im Gefüge des Librettos mit Aktion verkittet. Wer nur hören will, muss in den Konzertsaal pilgern. Heutzutage ist solcher theatralischer Totalitarismus wohl unabdingbar. Doch hält er sich, wie schon gesagt, an die Partitur, so eng, wie kaum eine andere Mozart-Regiearbeit unserer Zeit. Schon deshalb ist die Zürcher Produktion sehenswert.

Hörenswert ist sie dank des sensationellen Engagements des Ensembles ohnehin. Bis in die kleinste Rolle hat man sorgsam zu besetzen gewusst. Ob Gärtner Antonio (Giuseppe Corsin) oder kleingeistig-tolpatschiger Don Curzio (Andreas Winkler), schleimig-intriganter Basilio (Martin Zysset) oder kleinbürgerlich-eitler Bartolo (Carlos Chausson), die Charaktere sind akribisch gezeichnet und musikalisch sämtlich zumindest rollendeckend, wenn nicht von stimmlich bemerkenswertem Format.

Da überrascht etwa die Barbarina der Eva Liebau nebst hinreißend trampelhafter Komödiantik mit einem subtil phrasierten, stimmungsvoll abgetönten f-Moll-Arioso. Und Irene Friedli singt die Arie der Marzelline im vierten Akt mit jener Virtuosität, die zur sinnvollen Aufführung dieser sonst mit gutem Grund mangels wackerer Interpretinnen gestrichenen Nummer nötig ist.

Phänomenal im Zürcher Sängerverband so gut wie alle Hauptpartien: Martina Jankova hat für die Susanna einen sinnlich schönen, doch adäquat leicht-beweglichen Sopran, der in der Rosen-Arie auch zu manch berückender Phrase fähig ist. Malin Hartelius ist zur jugendlichen, doch herzbewegend singenden Gräfin gereift: Das „Dove sono“, die Primadonnen-Arie im dritten Akt, singt sie mit Atemzügen, die so endlos scheinen, wie Mozarts geschmeidige Melodiebildung verlangt; ein interpretatorisches Kabinettstück.

Erwin Schrott ist der Figaro, als Einziger im Rhythmus ein wenig ungeschlachter, als die durchwegs zügige Tempowahl Welser-Mösts im freiesten Auslegungsfall zulassen würde, doch dank seines dunklen Timbres von jenem abgründigen Potenzial, das diesen Mann aus dem Volk zu einem ernsthaften Gegenspieler für den erotomanischen Grafen Michael Volles macht. Die beiden ungebremst viril und voll Verve agierenden Hähne stehen einander Aug in Aug im Kampf um die zuweilen höchst angeregt gackernden Hühner gegenüber.

Versöhnung der Kampfhähne

Während des Fandango im dritten Akt kommt es beinah zur tätlichen Auseinandersetzung – und es ist ein bemerkenswerter Schlussgag von Bechtolfs Inszenierung, dass es zuletzt nicht nur zum legendären „Contessa perdono“ kommt, sondern auch zum Shakehands zwischen Figaro und dem Grafen – in Erinnerung an gemeinsame Abenteuer im „Barbier von Sevilla“. Die Revolution war zu Zeiten des „Figaro“ noch nicht ausgebrochen – doch steht, man spürt es, diese Versöhnung auf tönernen Füßen. Der quirlige Cherubin Judith Schmids droht sich in den Fallstricken, die sich da für Seele und Leib auftun, rettungslos zu verheddern; eine theatralische Studie auch das.

Schier unglaublich die Leistung des Zürcher Opernorchesters, das unter Franz Welser-Mösts Leitung jedes Detail von Mozarts Partitur klanglich und agogisch behutsam auslotet, manche Passage auch mit dem nötigen Humor theatralisch auskostet – und in allen Phasen der Sänger anschmiegsamer Begleiter ist. Das tönt, als hätte man jeden Sekundenbruchteil dieser Oper einzeln modelliert, und ist doch von einem Schwung, einem Elan getragen, der den ganzen Abend wie eine spontane Improvisation wirken lässt. Ein Glücksfall von einer Mozart-Aufführung, alles in allem, den gottlob demnächst auch Mikrofone und Kameras festhalten werden – auf dass man bald auch jenseits schweizerischer Gefilde den Wahrheitsgehalt dieser Zeilen überprüfen möge.