Liebender ohne Eigenschaften

Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (30.04.2007)

Werther, 28.04.2007, Luzern

Ein rauschhaftes Werk, fabelhafte Sänger und eine Regie, die beides in scharfes Licht rückt: Massenets Werther-Oper lässt in Luzern kaum Wünsche offen.

Wie kann man eine Geschichte, die von bedingungsloser Liebe handelt, in einer Zeit hoher Scheidungsraten glaubwürdig auf die Bühne bringen? Dem Schweizer Regisseur Stephan Müller gelingt es, indem er in Jules Massenets Oper «Werther» (1892) nach Goethes Briefroman alles zeitlos auf archetypische Muster reduziert. Im exizenzialistisch bedrohten Bürgermief der Fünfzigerjahre (Kostüme: Mechthild Feuerstein) erhalten die Figuren eine irritierende Brüchigkeit.

Unverbindlichkeit und Zwang

Den Rahmen bildet der nackte Bühnenraum des Luzerner Theaters (Bühne: Esther Bialas). Felsbrocken deuten einen unbehausten Unort an: tote Steine als Projektionsfläche für Werthers pantheistische Naturschwärmerei. Da hineingestellt ist ein Stück Zivilisation: Eine nach hinten perspektivisch verjüngte Holzschachtel steht für das bürgerliche Heim, das im Stück der Geschäftsmann Albert verspricht. Auf Anhieb ist klar, vor welcher Entscheidung Charlotte steht, die (in der Oper) den Schwärmer Werther liebt, aber den zuverlässigen Albert heiratet.

Die beiden Sphären, Werthers halt- und grenzenlose Schwärmerei für Charlotte und Alberts Pragmatismus und Solidität, werden hier so pointiert in den Raum gestellt, dass sie in ihr Gegenteil umschlagen, in Unverbindlichkeit und Zwang. So wird die Geborgenheit, die die Holzwände vermitteln, zum Gefängnis, wenn sich die Rückwand schliesst und der Deckel senkt.

Starke Charaktere

Müllers Regie führt diesen Ansatz konsequent weiter und kann dabei auf vorzügliche Sänger und Darsteller bauen. Howard Quilla-Croft gibt den Albert mit diabolischer Coolness als Handelsreisenden, der den Triumph der Heirat wie ein militärisches Zeremoniell auskostet. Simone Stock mischt Charlottes jüngerer Schwester Sophie vokal einen Schuss flackernder Hysterie bei passend zu einem Teenager, der sich aus Schwärmerei für Werther noch nicht in die Rolle eines braven Bürgermädchens schicken will. Gregor Dalal als stimmmächtiger Vater und seine kleinen Kinder (Mädchenchor der Musikschule Luzern) liefern dazu Familienidyllen wie aus Grossvaters Fotoalbum.

Von solchen Typisierungen heben sich die überragenden Protagonisten ab. Die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner hat in der Charlotte eine Glanzrolle gefunden. Wie sie die Reserviertheit der treuen Gattin zunehmend verliert und sich in den Begegnungen mit Werther zu ergreifender stimmlicher Leidenskraft steigert, ist eine Klasse für sich. Jason Kim bringt ein doppeltes Kunststück fertig. Einerseits spielt er den Werther ganz als Melancholiker ohne Eigenschaften, der ­ so der Regisseur die Liebe idealisiert, weil ihm Geborgenheit als gesellschaftlichem Aussenseiter gerade abgeht. Anderseits macht der Sänger mit tenoralem Schmelz und triumphierender Strahlkraft gerade dieses Liebesgefühl zum authentischen Ereignis des Abends.

Begeistertes Premierenpublikum

Müller findet für die Gebrochenheit seiner Figuren suggestiv komponierte Bilder. Wenn Werther sein Jackett auszieht und in den Ärmeln hängen bleibt, sitzt er da wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln. Und wenn Charlotte Werthers Briefe auseinanderfaltet, entpuppen sie sich als Leichentücher, zwischen denen sie wie ein eingesperrtes Tier den Wänden entlangtigert. Den angedeuteten Wahnsinn führt der vierte Akt weiter, der Werthers Freitod und die letzte Begegnung der Liebenden als Halluzination Charlottes vorstellt.

Am Erfolg des Abends entscheidenden Anteil hatte auch das Luzerner Sinfonieorchester. Unter der Leitung von Rick Stengards kostet es die rauschhafte Seite von Massenets raffiniert-süffiger Musik mit grossem sinfonischem Atem aus, gestaltet aber die Partitur bis in lauernde Pianissimo-Sphären hinein farbig und mit viel gestalterischem Feinsinn. Kein Wunder, spendete das Premierenpublikum ungeteilten, lang anhaltenden Applaus.