Beklemmende Visionen

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (18.05.2007)

Jeanne d'Arc au bûcher, 16.05.2007, Basel

«Jeanne d’Arc au bûcher» von Arthur Honegger und Paul Claudel als Musiktheaterpremiere am Theater Basel

Das szenische Oratorium von Arthur Honegger, vor 69 Jahren von Paul Sacher in Basel uraufgeführt, ist in einer spannenden Interpretation zu erleben.

Der Zufall ist mitunter ein listiger Geselle. Just am Tag der Amtseinsetzung des französischen Staatspräsidenten ging am Theater Basel ein Leib-und-Magen-Stück der französischen Mentalitätsgeschichte über die Bühne: Arthur Honeggers szenisches Oratorium «Jeanne d’Arc au bûcher» nach der Dichtung von Paul Claudel. In den letzten Jahren war das Stück ein wenig in Vergessenheit geraten, vielleicht auch aufgrund der schlechten Zeiten für Patriotisches aller Art. Die Basler Produktion von David Herrmann (Regie), Christof Hetzer (Ausstattung) und Cornelius Meister (Dirigent) kommt einer Wiedergeburt des Stückes aus dem Geist der Aktualität gleich.

Auf der Bühne das nackte Elend eines Werkshofs am Stadtrand: eine hölzerne Zisterne mit Schalllöchern, Gitterzaun, Gewächshaus, Strassenlaterne, Telefon. Dort hinein betet eine junge Frau: «Aus der Tiefe des Abgrunds erhebe ich meine Seele zu Dir, o Herr.» In das chorisch beschworene Dunkel bringt eine andere Frauengestalt Licht: Jeanne, die aus dem Nichts auf die Bühne gespuckt wird und die Stimmen heiliger Frauen hört, die ihr eine Mission auftragen.

GERICHT. Ein schwarzer Mönch, Dominique, hält ihr den gesellschaftlichen Spiegel vor: Sie gilt als Hexe, als Teufelsbraut. In einem absurden Gerichtsverfahren wird ihr der Prozess gemacht. Oberster Richter ist ein Mann, der sich als Schwein bezeichnet, rasantes Latein-Kauderwelsch spricht und in einer improvisierten Campingszene für sich und seine Beisitzer, die Knaben-Schafe, Würste grillt. Da bricht die moderne Zivilisation mit ihrem Konsumterror brachial in Jeannes Leben ein.

Eine nächste Szene zeigt die jungen Herren der Welt, die Karten spielend Jeannes Schicksal eiskalt besiegeln. Die Frau verfällt Wahnideen, redet mit Phantomen und scheint die Teilnehmer eines bunten Bauernfests mit ihren Wahnvorstellungen anzustecken. Jeanne, hin- und hergerissen zwischen Grössenwahn und Demut, bittet die Menschen um ihre Fürsprache. Doch sie rennen achtlos an ihr vorbei - eine in ihrer choreografischen Genauigkeit bezwingende Szene. Der Tod auf dem Scheiterhaufen ist unausweichlich, und die leibliche Jeanne verschwindet in der Zisterne, die zum Dampfkessel geworden ist. Ihre Seele aber lebt, die Liebe preisend, weiter.

POTENZIAL. Nach siebzig Spielminuten ist das Opern-Oratorium vorbei, und wir sind um eine Erkenntnis reicher: Honeggers Stück braucht nicht in der Neoklassizismus-Schublade zu verstauben. Es öffnet sich einer packenden Neudeutung und entfaltet musikalisch alle erdenkliche Kraft. Was der junge Heidelberger Generalmusikdirektor Cornelius Meister aus dem Sinfonieorchester Basel herausholt, ist kapital: scharf im Klang, präzis in der Attacke, hellwach im Realisieren der Texturen vom Choral bis zum Tutti-Chaos. Der von Henryk Polus einstudierte Chor sowie die Knabenkantorei Basel leisten vorzügliche Arbeit, sei es verborgen oder auf offener Bühne.

In der Titelpartie eine Marianne Denicourt, die mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Stimme Jeanne ist - leidend, tobend, liebend. Ihr zur Seite steht mit Sébastien Dutrieux ein gespenstischer Frère Dominique. Agata Wilewska singt lupenrein die Jungfrau, Karl-Heinz Brandt kernig karikierend den obersten Richter. Die Produktion ist ganz wunderbar aus einem Guss und entfachte beim Premierenpublikum zu Recht einen Beifallssturm.