Verloren am Ende der Strasse

Christian Fluri, Mittelland Zeitung (18.05.2007)

Jeanne d'Arc au bûcher, 16.05.2007, Basel

Theater Basel Regisseur David Hermann erzählt Arthur Honeggers «Jeanne d’Arc au bûcher» in starken, aktuellen Bildern. Die musikalische Interpretation begeistert.

Fast 70 Jahre nach der konzertanten Basler Uraufführung durch den Dirigenten und Mäzen Paul Sacher erleben wir nun am Theater Basel eine eindrückliche szenische Produktion von Arthur Honeggers Oratorium «Jeanne d’Arc au bûcher» (Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen) › in der Originalsprache. Das junge deutsche Regieteam mit David Hermann und Bühnen- und Kostümbildner Christof Hetzer bringt eine aktuelle, starke «Jeanne d’Arc» auf die Grosse Bühne. Dirigent Cornelius Meister lotet die Partitur Honeggers in ihrer Vielschichtigkeit aus.

Das Libretto des französischen Schriftstellers Paul Claudel erzählt die Geschichte Jeanne d’Arcs aus ihrem Blickwinkel: Sie schaut auf dem Scheiterhaufen zurück auf ihr Leben. In Jeanne d’Arc läuft gleichsam ein innerer Film ab, die Anordnung der Szenen ist assoziativ, nie chronologisch. Manche Szenen sind surreal, sind Grotesken. Honegger greift den quasi filmischen Charakter des Claudel-Textes in seiner Musik auf, die in der französischen Tradition steht. Sie ist vielschichtiges Erzählmittel mit unterschiedlichsten Stilelementen von der Gregorianik über Barock und Volkslied bis zum Jazz. Das Oratorium verknüpft zudem die Formen Sprechtheater (Jeanne und Frère Dominique sind Sprechrollen), Melodrama und Oper miteinander. Es erzählt von der Wankelmütigkeit des Volkes, das sich vor Machtinstanzen duckt, eigenständige Individuen zu Sündenböcken stempelt und ausgrenzt. «Jeanne d’Arc au bûcher» ist auch eine Auseinandersetzung mit dem Frankreich der späten 1930er Jahre, das sich dem Nationalsozialismus gegenüber unentschieden verhält.

Der Regisseur David Hermann holt in seiner Basler Inszenierung Jeanne d’Arc vom Denkmal herunter und aus der Historie heraus. Er fragt: Was ist das für eine Frau, die sich als Jeanne d’Arc erkennt. Da gibt es kein Rouen, keinen Scheiterhaufen auf der Bühne, sondern eine vorstädtische Strasse, das Ende einer Strasse, am Rand sind Blumenbeete und Pflanzenhecken. In der Mitte steht ein grosser runder Holzbau, eine Transformatoranlage vielleicht, oder eine ausgediente Sägerei. Jedenfalls wird auf dem Dach mit einem Schild vor elektrischem Strom gewarnt. Verkohltes liegt darauf. Der Bau hat etwas Trutzhaftes, scheint ein Zeichen der rätselhaften Geschichte, die Jeanne in sich trägt.

Hetzers Bühne symbolisiert Anonymität, Verlassenheit in der dunklen, öden Welt, von der der Chor am Anfang singt. Der fast unheimliche, klagende Gesang kommt aus dem Off. Wir sehen nur eine Frau (La Vièrge), die über den öffentlichen Telefonapparat den «Herrn» um Hilfe bittet. Aus dem Hörer kündet eine Stimme von Jeanne.

Eine junge Frau rennt auf die menschenleere Bühne, verzweifelt. Sie wird Jeanne gerufen, von Frère Dominique. Hermann zeichnet ihn als schauerlichen Dämonen mit blutigem Gesicht. Dominique ist der Dämon in Jeanne, die Stimme, welche die Frau Jeanne d’Arc ruft, welche die mythische Geschichte als ihre eigene ausgibt. Der Chorgesang aus dem Off sind die Stimmen in Jeanne, die sie erfüllen und zugleich quälen. Jeanne ist eine schizophrene Frau, die einen religiösen Wahn ausgebildet hat und daran verzweifelt.

Hermann baut auf Surrealismus und Groteske in Claudels Text auf und führt beides in eigener Bildsprache weiter, mit Bezügen zu surrealistischen Filmkünstlern wie Luis Buñuel.

Jeanne d’Arc wird bei Claudel/Honegger in einer satirischen Szene vom Schwein Porcus, einem Esel und Schafen gerichtet. Hermann übersetzt die Tiermetaphorik zurück. Porcus ist ein spiessiger Familienvater, der Esel der Grossvater, die Schafe sind die Kinder: Die Familie richtet über die Frau und Mutter, die aus der Norm gefallen ist, die sie nicht begreifen können, verstösst sie. Dabei erkennt sie Zeichen ihrer Zerstörung: Auf dem brennenden Grill der picknickenden Familie liegt eine Puppe. Die familiäre Ausgrenzung Jeannes steht symbolisch für die gesellschaftliche.

Und die Karten spielenden Herolde, die den Verkauf Jeannes an England aushandeln, zeichnet Hermann als Spieler, Kriminelle aus der Halbwelt, die in der Verlorenen ihr käufliches Lustobjekt sehen.

Die Stimmen Marguérites und Cathérines, die ihr Göttlichkeit einflüstern, werden in den auf dem Dach des Holzbaus liegenden verkohlten Gebilden lebendig. Auch sie Zeichen, dass der wahnhafte Weg Jeannes in die Zerstörung führt. Ebenso ist die Szene des festenden Volkes, das Jeanne zuerst folgt, sie verehrt und dann verstösst, ein inneres Bild Jeannes. Und der Unschuld verkörpernde Kinderchor erhebt sich gleichsam aus der Erde des Blumenbeetes, aus dem Totenreich: Die Unschuld ist tot.

Jeanne verliert sich als Verzweifelte zwischen hin und her eilenden Menschen, die keine Kenntnis nehmen von ihr. In sich hört sie die sie verurteilenden Stimmen dieser Menschen. Ihr Hilferuf versetzt die Menge in eine Starre, sie sieht wie die Menschen ihre Feuerzeuge anzünden: Lichter der Hoffnung? Die sie zu sich rufende Vièrge übergiesst sie mit Benzin. Es gibt für die sich im religiösen Wahn verstrickte Jeanne keine Hoffnung. Sie steigt aufs Dach des Holzbaus, reisst dort das Tor zum Tod auf, schreitet ins Nichts. Bricht Honegger durch seine Musik schon die religiöse Überhöhung von Claudels Text, so verweigert sie Hermann ganz.

Ein starkes, tief berührendes Schlussbild gelingt Hermann. Seine schlüssige aktuelle Inszenierung von «Jeanne d’Arc au bûcher», die in die Tiefenschichten von Text und Musik vordringt, erzählt eine doppelte Geschichte: Die Tragödie einer von religiösem Wahn befallenen Frau und die Tragödie der brutalen Ausgrenzung eines nicht in die Gesellschaft integrierten Individuums. Hermann gewinnt dem Stoff Aktualität und Zeitlosigkeit in einem ab.

Die Basler Produktion überzeugt ebenso in der Übereinstimmung von Szene und Musik. Der junge deutsche Dirigent Cornelius Meister, Generalmusikdirektor in Heidelberg, bringt die Partitur in ihrer Vielfältigkeit zum Klingen. Die unterschiedlichen Stilmittel arbeitet er präzise heraus. Die aufwühlenden, aufbrechenden Klanggebilde, die Jeannes innerer Unruhe, ihrer Verzweiflung Sprache geben, zeichnet er scharf. Ebenso gestaltet er die Sehnsucht vermittelnden Tutti-Passagen in ihrer Fülle. Das Sinfonieorchester Basel zeigte an der Premiere zu Beginn noch Nervosität, fand dann aber zu einer grossartigen Leistung.

Chor und Ensemble spielen herausragend. Die französische Schauspielerin Marianne Denicourt gibt Jeanne ergreifend, in all ihren Facetten und in ihrer Tragik. Ihr Schicksal berührt. Der Belgier Sébastien Dutrieux ist ein zynischer, Jeanne zerstörender Dämon. Er gibt der Rolle klares Profil.

Dritte Hauptfigur ist der Chor, der wieder eine phänomenale Leistung vollbringt. Er bewegt sich mit erstaunlicher Leichtigkeit in den verschiedenen Stilelementen und entfaltet eine enorme gestalterische Kraft. Karl-Heinz Brandt, der mit hellem Tenor seine Partie meistert, aber zum Forcieren neigt, zeichnet Porcus präzis als Karikatur. Er ist ein spiessiger Familienvater mit Hang zum Perversen. Bewegend, fast körperlos singt Mardi Byers die Marguérite. Rita Ahonen ist als Cathérine trotz schönem Alt zu verhalten. Ausgezeichnet auch Agata Wilewska als Vièrge. Gut besetzt sind alle kleinen Rollen.

Die Sparte Oper schliesst Georges Delnons erste Saison am Theater Basel mit einem weiteren künstlerischen Erfolg. Das Publikum war begeistert.