Der Künstler und seine Bürger

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (29.05.2007)

Falstaff, 26.05.2007, Bern

Verdis «Falstaff» in Bern - und bei den Pfingstfestspielen Baden-Baden

Wer ist denn dieser Sir John Falstaff? Ein Dicksack, klar, ein Vielfrass und Säufer vor dem Herrn. Ein Schwerenöter, gewiss, ein Schürzenjäger nämlich, der das Kleinstädtchen Windsor und seine behaglich dahinlebenden Herren Einwohner kräftig aufzuwecken vorhat, dabei aber, und zwar gleich zweimal, selber ganz bös erwacht. Ein Vertreter des alten Adels, natürlich, heruntergekommen und immer auf der Suche nach Barem, vor allem dort, wo es gerade daran nicht fehlt: bei den Faninals, den neureichen Bürgern. Ein Mann schliesslich, will sagen: einer, dem es im entscheidenden Moment an Klarsicht fehlt und dem von den Weibern übel mitgespielt wird. Das alles ist Sir John Falstaff, den sich Giuseppe Verdi und sein geistreicher Librettist Arrigo Boito bei Shakespeare ausgeliehen und so besonders angeeignet haben, ganz ohne Zweifel.

Faustdick und selbstironisch

Aber wer ist Sir John Falstaff wirklich - heute? Die Frage stellt sich jedem Regisseur, der sich mit Verdis letzter Oper befasst. Eike Gramss, der sich dieses Stück für seine Abschiedsinszenierung am Stadttheater Bern ausgesucht hat, nähert sich ihr mit Witz und Hintersinn. Natürlich ist auch diesmal der Humor von eher kräftiger Statur. Und herrscht konkretes Theater der alten Art - wenn auch solches, das auf reichhaltig ausgebautem Handwerk fusst. Vor allem fehlt es nicht an Déjà- vus: Die von dem Ausstatter Christoph Wagenknecht geschaffene Scheibe aus einfachen Holzplanken und die gewölbten Stoffbahnen im Hintergrund, die das Geschehen ins Innere eines riesigen Globus verlegen - diese Bretter, die die Welt bedeuten, haben mehr oder weniger schon die letzten «Falstaff»-Inszenierungen von Eike Gramss bestimmt, jene von 1996 in Bern und jene von 2001 in München.

Allein, was diesmal aus der Titelfigur wird und wie sich das auf die Umgebung auswirkt, ist ausgesprochen köstlich. Falstaff ist hier ein enormes Ich, ein Künstler nämlich und, wie sein zerschlissener, aber ausgesprochen stolzer Mantel und sein majestätischer, jedoch kurz vor dem Auseinanderbrechen stehender Sessel anzeigen, vielleicht sogar ein Theaterkünstler. Von aufbrausender Selbstbezogenheit und zugleich tiefer Unsicherheit, weist er alle Komplimente und Geschenke zurück, um dann gleich die Lesebrille aufzusetzen, die Geldscheine akkurat zu zählen und die Weinflaschen zu liebkosen - Nicola Alaimo spielt und singt das prächtig aus. So herzig verliebt in sich ist dieser Falstaff, dass er gar nicht merken kann, wie übel ihm von der versammelten Bürgerschaft mitgespielt wird: von den Hausfrauen Alice Ford (Cristina Barbieri), Meg Page (Claude Eichenberger) und ihrer Verbündeten Mrs. Quickly (Ursula Ferri) sowie Herrn Ford in seinem Reitkostüm (Robin Adams). Am Ende sind die Sympathien klar beim Verlierer - und hat man sich herzhaft erquickt an unzähligen, liebevoll ausgeführten Einzelheiten.

Gerade umgekehrt das Ende im Festspielhaus Baden-Baden, wo anlässlich der Pfingstfestspiele im Namen Herbert von Karajans ebenfalls Verdis «Falstaff» gegeben wird. Da reibt man sich die Augen, um die vom Gähnen erzeugten Tränen zu beseitigen. Ambrogio Maestri ist dort ein Falstaff, der dröhnt und röhrt, der unablässig auf den Putz haut und kein Klischee auslässt. Und seine Entourage, in der sich etwa die reizende Véronique Gens als Alice Ford findet, bleibt weitestgehend auf sich selbst gestellt. Immerhin nutzt Robert Tear die Situation, um mit seinem unglaublichen schauspielerischen Talent die Nebenrolle des Dr. Cajus zu einer blendenden Charakterstudie auszubauen, und bringt Jane Henschel mit ihrer glänzenden Tiefe viel Situationskomik in die Auftritte der Mrs. Quickly. Eine Inszenierung, die als interpretierende Ausleuchtung des Stoffs diese Bezeichnung verdiente, wird aus solchen Einzelmomenten jedoch nicht, auch nicht aus der Choreografie der Farben, welche die Bühne mit Bewegung versehen soll. Als Regisseur und Ausstatter in einer Person bleibt Philippe Arlaud vielmehr, und keineswegs zum ersten Mal, bei der schicken, aber leeren Bebilderung stehen. Und dass am Ende des zweiten Akts, als Falstaff in die Themse gekippt wird, auch noch die Wäschekörbe vertauscht werden, ist doch etwas billig.

Umso deutlicher liegt der Akzent hier auf dem Umstand, dass mit dem Balthasar-Neumann- Orchester, dem gleichnamigen Chor und deren Leiter Thomas Hengelbrock Vertreter der historischen Aufführungspraxis am Werk sind. «Originalinstrumente» lautet das Stichwort, und es meint: Darmsaiten und wenig Vibrato, Posaunen mit Ventilen statt mit Zügen, ein langes Naturhorn für die nächtliche Feerie an der Eiche von Herne im dritten Akt. Indes ist das alles weniger originell, als es scheint, denn schon vor knapp zehn Jahren hat John Eliot Gardiner im Festspielhaus Baden-Baden vorgeführt, wie Verdis «Falstaff» im Geist der historischen Aufführungspraxis klingt. Und indem Gardiner das Orchester damals auf die Bühne setzte, hat er die einzig richtige Entscheidung getroffen - die Akustik lässt nichts anderes zu. Wie schon bei Verdis «Rigoletto» mit Hengelbrock vor drei Jahren bleibt auch bei diesem neuerlichen Versuch mit «Falstaff» das Orchestrale mulmig und ohne Kontur. Dazu oft hart und vom Dirigenten zerschlagen - sehr nördlich jedenfalls und fern all jener Traditionen, die sich mit dieser Musik verbinden und ihr Atem geben. Und wenn ein Dirigent zulässt, dass der Regisseur zu dem ganz aus dem Pianissimo aufsteigenden Beginn des dritten Akts den unförmigen Falstaff aus dem Wasser hieven lässt, was Szenenapplaus auslöst, ist alles gesagt.

Liebevolles Schnippchen

Da darf man sich den Abend im Berner Stadttheater loben, wo dieser musikalisch grossartige Moment in aller Deutlichkeit wahrzunehmen ist. Mag sein, dass das Berner Symphonie-Orchester unter der Leitung von Srboljub Dinic in der ausserordentlich anforderungsreichen Partitur Verdis hie und da an seine Grenzen gerät, dass das Forte generell zu laut und zu klobig klingt («Falstaff» ist reine Kammermusik) - im Ganzen wird hier auf sehr respektablem Niveau musiziert. Herrlich gebremst die Tempi an jenen Stellen, an denen sich Falstaff aufplustert, ohne Druck ausgesungen die vokalen Linien, durchwegs hoch die Verständlichkeit. Als an der Premiere zum Schluss der Regisseur Eike Gramss auf die Bühne kam und genau jene Lesebrille trug, deren sich auch der Hauptdarsteller bedient hatte, war vollends klar, wer hier Sir John Falstaff ist: der Theaterdirektor, der sich zum Abschied nach sechzehn Jahren des Wirkens einen Augenblick der ironisch gebrochenen Selbstdarstellung erlaubt und dabei den Bürgern, die mit ihrem Geld sein Stadttheater trugen und tragen, ein letztes liebevolles Schnippchen schlägt.