Abgründe

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (04.06.2007)

Francesca da Rimini, 03.06.2007, Zürich

Was mag Alexander Pereira – der bekanntermassen nicht zu Wagners Verfechtern gehört – dazu gebracht haben, „Francesca da Rimini“ von Riccardo Zandonai aufzuführen, dessen erklärtes Vorbild der „Bayreuther Meister“ war? Ein Werk, das die wenigsten kennen – die Premiere war demzufolge auch recht spärlich besetzt –, das aus dem frühen 20. Jahrhundert stammt und auf einer düsteren (wahren) Geschichte aus dem späteren Mittelalter fusst, die Gabriele d’Annunzio nach einer Vorlage aus Dantes „Göttlicher Komödie“ sowie nach Boccaccio schrieb, und die Tito Ricordi schlussendlich zu einem Libretto verarbeitete?

War es ein Wunsch Nello Santis, der die Oper gestern zur Premiere führte, oder gar des Regisseurs Giancarlo del Monaco, der seinen Vater in der Tenor-Rolle erleben durfte und der dieses Werk bereits früher inszenierte? Auf alle Fälle war es ein mutiges Unterfangen, dem jedoch eher mässiger Erfolg beschieden sein dürfte.

Die (gekürzte) Handlung

Francesca da Polenta soll aus politischen Gründen mit dem mächtigen Giovanni Malatesta da Rimini vermählt werden. Dieser ist jedoch von der Natur nicht sehr gesegnet und hinkt. Da Francesca eine schöne und starke Frau ist, befürchtet man, sie würde Giovannis Antrag ablehnen. So kommt als Vertreter dessen Bruder, der schöne Paolo, und bittet um die Hand Francescas. Diese glaubt, in ihm den rechtmässigen Bräutigam zu erblicken und sagt zu.

Nach der Heirat mit dem echten – hässlichen – Bräutigam begibt sich Francesca unglücklich ins Schlachtgetümmel, wo sie auf Paolo trifft. Sie wirft ihm seinen Verrat vor. Er gibt zu, seit seiner ersten Begegnung mit ihr den Seelenfrieden verloren zu haben und stürzt sich ungeschützt in den Kampf (so zumindest stehts im Libretto - davon war in der Inszenierung nicht wirklich viel zu sehen). Francesca nimmt an, dieser Heldenmut sei als Sühne gedacht und vergibt ihm.

Später sitzt Francesca in ihren Gemächern und liest die Geschichte von Lancelot und Ginevra. Paolo tritt auf. Zuerst sind sie noch etwas distanziert, dann bittet Paolo Francesca, aus der Geschichte zu lesen und Ginevra zu „spielen“. Damit vermischt sich natürlich die Fiktion mit der Realität und beide finden sich in Liebe wieder.

Der jüngste Bruder, auch eine verkrüppelte Figur (er ist einäugig), kann sich den Reizen seiner Schwägerin ebenfalls nicht entziehen. Er bedrängt sie, stösst aber nur auf Angst und Widerwillen. Offensichtlich weiss er jedoch von ihrer verhängnisvollen Liaison und versucht, sie dadurch einzuschüchtern. Nachdem er dezidiert abgewiesen worden ist, klärt er seinen ältesten Bruder auf, der dies anfänglich nicht glauben, aber sich dann mit eigenen Augen überzeugen will.

Francesca trifft Paolo in ihrem Schlafgemach – sie wähnen Giovanni auf Reisen. Dieser kommt jedoch zurück und tötet die beiden (in dieser Inszenierung mit einem einzigen (!) Dolchstoss – was für eine gewisse Heiterkeit sorgte).

Wie inszeniert man so etwas??? Del Monaco hat sich für eine Inszenierung entschieden, die bebildert und nicht deutet. Das erste Bild (Bühnenbild: Carlo Centolavigna) rief bei mir einen ersten (Staub-)Hustenreflex hervor. In der heutigen Zeit hätte man einen Garten mit Projektionen, Lichtregie und anderen Möglichkeiten auch anders darstellen können als mit Blümchen, Bäumen (die heftig hin- und herschaukeln, wenn sich die Protagonisten darunter setzen) und überbordendem Kitsch. Man kam sich vor wie zur Entstehungszeit der Oper - vielleicht war das ja beabsichtigt und, da es eine Koproduktion mit der Fondazione Teatro Lirico „Giuseppe Verdi“ di Trieste war, vielleicht sogar notwendig? Allerdings wäre es vielleicht in der heutigen Zeit angebracht gewesen, von den Künstlern etwas mehr als nur stereotype Operngesten zu verlangen?! Del Monaco hat die Inszenierung in d’Annunzios Anwesen „Vittoriale“ am Gardasee angesiedelt. Das zweite Bild zeigt im Hintergrund das ungewöhnlichste Denkmal dieses Anwesens, den Bug der „Puglia“, den d’Annunzio von der Marine geschenkt bekam. Gerade dieses Bild hatte so seine Tücken. Während es sich im Libretto um eine Schlachtszene handelt, in der Paolo mit einem Meisterschuss den Führer der Gegenpartei niederstreckt und selbst leicht von einem Pfeil gestreift wird, schiesst hier Paolo ins Publikum, während im Hintergrund der Chor „dekorativ“ mit Speeren herumfuchtelt. Plötzlich bricht Paolo zusammen. Für alle, die das Libretto nicht vorher gelesen hatten, wurde nicht klar, ob es sich hierbei nicht vielleicht um einen Schwächeanfall des Tenors handelte… Giovanni entsteigt dem Bug der „Puglia“ auf einem Rollstuhl - ein durchaus eindrückliches, wenn auch nicht unbedingt zwingendes Bild.

Die restlichen Bilder spielen im reichlich überfrachteten Inneren der Villa (Schlafzimmer Francescas und Arbeits-/Esszimmer). Allesamt hinterlassen sie den Eindruck einer sehr beengten, kleinen Bühne - und am Ärgerlichsten waren die drei reichlich langen Lichtpausen. Wozu gibt es z.B. eine Drehbühne, die den Zuschauern solche unnötigen Verzögerungen ersparen würde?

Pluspunkte für die musikalische Darbietung

Musikalisch bot das Orchester unter der versierten Leitung des in Zürich vergötterten Altmeisters Nello Santi eine beachtliche Leistung. Die Orchestrierung ist - ähnlich wie z.B. bei Wolf-Ferrari - sehr komplex und magistral komponiert. Allerdings vermochte ich in Zandonais Werk nicht eine wirklich eigene Handschrift zu entdecken. Es gab viele „déjà-écouté“-Erlebnisse (von Wagner über Puccini und Debussy bis zu Filmmusik u.v.m.) und haften ist nicht viel geblieben. Aber vermutlich müsste man sich intensiver ins Werk einhören. Und leider musste ich während der Aufführung ernsthaft um mein Gehör fürchten: Das Orchester spielte mehrheitlich unglaublich laut auf. Wird ein Dirigent mit den Jahren weniger sensibel für Dynamiknuancen oder eignet sich das Zürcher Opernhaus für einen solchen Orchesterklang ganz einfach nicht, weil es zu klein ist?

Emily Magee als Francesca betörte, trotz etwas eindimensionaler Stimmfärbung, in ihrem Rollendebut. Ihr warmer, gut geführter, alle Lagen meisternder Sopran vermochte sowohl die leidenschaftlichen wie auch die verzweifelten, zweifelnden und wütenden Facetten der Rolle zu verkörpern. Schade, dass sie mit manierierten Gesten nicht zu ihrem üblichen Spiel (wie z.B. als Marietta in „die Tote Stadt“) finden konnte oder durfte. Leider fiel das Urteil für ihren Liebhaber, Marcello Giordani, nicht so positiv aus. Liegt es an der fehlenden Technik oder hat er sich seine Stimme durch falsche Rollenwahl bereits unwiederbringlich zerstört? Fakt ist, dass im Piano- und Mezza-voce-Bereich die Stimme belegt klingt, dass sie nicht mehr richtig anspringt und selbst im Falsett ausgefranst und unfokussiert klingt (von markanten Intonationsproblemen gar nicht erst zu reden!). Sobald Giordiani jedoch fortissimo singt (und das tut er oft!), blüht die Stimme auf und vermag zu überzeugen. Allein, nur mit Forte kann sich kein Tenor gute Noten holen! Und leider ist Giordiani zudem auch alles andere als ein guter Schauspieler.

An Juan Pons (Giovanni) sind die Jahre zwar nicht spurlos vorbei gegangen: Seine Stimme zeigt einige Abnützungserscheinungen. Und doch: Er ist eine Persönlichkeit, welche die Bühne vom ersten Augenblick an füllt. Seine Phrasierungskunst und Wortdeutlichkeit sind nach wie vor erste Güte. Er gestaltet die Rolle auch sängerisch prägnant, vermag sowohl den harten Mann wie auch den liebenden Ehemann zu verkörpern. Für mich eine sehr eindrückliche Leistung.

Vom Publikum bejubelt wurde Boiko Zvetanov (Malatestina, der Einäugige), was ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann. Die Maske leistete zwar ganze Arbeit und vom Optischen her entsprach er perfekt diesem hässlichen, kleinwüchsigen jüngsten Bruder. Die Tessitura dieser Tenorpartie ist jedoch ziemlich tief gelegen, und dies war noch nie Zvetanovs Stärke. In den tiefen Lagen kam praktisch nur heisse Luft, obwohl er sich hör- und sichtbar anstrengte, die gewünschten Töne zu produzieren. Ansonsten sang er in gewohnter Stentormanier: laut, aber undifferenziert.

Gleiche Probleme mit der Tessitura schien Hélène Coutoure als Sklavin Smaragdi zu haben, während Martina Welschenbach (als Francescas Schwester Samaritana) eher damit zu kämpfen hatte, dass sie von der Bühne abgewendet singen musste. Sie forcierte daher etwas zu stark, was ihrer sonst sehr schönen Stimme eine Schärfe gab, die sie sonst nicht hat.
Von den kleineren Rollen fielen mir vor allem Christiane Kohl (Biancofiore) und Cheyne Davidson (Spielmann) positiv auf.

Fazit
Ein sehr düsteres Werk, das musikalisch spannend ist (wenn auch gewisse Striche der Oper gut tun würden), streckenweise unter die Haut geht und das zu entdecken sich lohnt. Persönlich würde ich eine konzertante Version oder eine ironisierende Deutung (à la „Rose vom Liebesgarten“ in der Regie von Pountney) vorziehen. Und vielleicht wäre es von Vorteil, wenn die schwülstigen Texte für einmal unübersetzt blieben.…