Schwüles Fin de Siècle

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (05.06.2007)

Francesca da Rimini, 03.06.2007, Zürich

Zandonais «Francesca da Rimini» erstmals im Zürcher Opernhaus

Was muss das für eine Welt gewesen sein, in der eine Oper wie Riccardo Zandonais «Francesca da Rimini» zum Grosserfolg werden konnte? Gewiss: Seit Dantes «Divina commedia» zählen Paolo und Francesca zu den berühmtesten Liebespaaren der Weltliteratur, doch was Gabriele D'Annunzio in seiner Verstragödie und Zandonai in der diese vertonenden Oper aus dem Stoff gemacht haben, übertrifft an Brutalität und Sündenlust die Summe von «Tosca» und «Salome».

Betrug und Doppelmord

Mit einem Betrug beginnt es: Die schöne Francesca soll mit dem Malatesta-Sohn Giovanni verheiratet werden. Da dieser verkrüppelt ist, wird der schöne jüngere Bruder Paolo als Brautwerber ausgeschickt. Sie hält ihn für den Bräutigam und verliebt sich in ihn. Nach der Hochzeit mit Giovanni bricht bei der gemeinsamen Lektüre des Lancelot-Romans die Leidenschaft zwischen Schwager und Schwägerin aus. Doch am Renaissance-Hof der Malatesta herrschen grausame Sitten. Auch der in einer Schlacht verwundete jüngste Bruder, Malatestino, begehrt Francesca. Während er sie bedrängt, ertönen die Schreie eines Gefolterten. Nachdem er diesen durch Enthauptung zum Schweigen gebracht hat, verrät Malatestino das Liebesverhältnis von Paolo und Francesca dem betrogenen Ehemann Giovanni, der die beiden des Nachts überfällt und ermordet.

Wie kann man dieses Stück - gewissermassen ein veristisches Historiendrama mit Parallelen zu «Tristan und Isolde» - heute auf die Bühne bringen, ohne dass es peinlich wirkt? Die Bregenzer Festspiele haben es 1994 - erfolgreich - mit einer Mischung von Historismus und Abstraktion versucht. Giancarlo del Monaco und sein Ausstatterteam Carlo Centolavigna (Bühne) und Maria Filippi (Kostüme) bieten eine andere Lösung an. Sie versuchen mit «Francesca da Rimini» ein authentisches Zeitbild zu vermitteln, indem sie die Handlung in D'Annunzios pseudosakrales Anwesen «Vittoriale» am Gardasee verlegen. Gross ist der Kontrast zwischen Francescas üppig blühendem Garten im ersten Akt - zusammen mit den opulenten Kostümen ergibt sich die Wirkung einer kolorierten alten Fotografie - und der düsteren Männerwelt der Malatesta, in der bunte Glasfenster und reliquienartige Kunstobjekte die Akzente setzen und das Schnellboot des Dichters in einem Turm vor Anker geht. Für Zandonais ihrerseits eklektizistische, bald beklemmend schwülstige, bald brutal grelle, dann wieder diffus stimmungshafte Musik ist das ein durchaus passender und überdies ästhetischer Rahmen. Doch er bleibt Dekoration, denn del Monacos Regie bildet das Geschehen gleichsam im Massstab 1:1 ab, ohne Brechung, in kruder Realistik (immerhin erspart er uns den Anblick des blutenden Hauptes). In einigen Szenen wird das Drama trotzdem lebendig: dann, wenn Malatestino in Gestalt des kleingewachsenen Tenors Boiko Zvetanov erscheint und sich seine perverse Lust, seine tierische Gier und seinen dämonischen Hass aus der Brust schreit.

Sängeroper

Der Rest ist Sängeroper. Grossartig Emily Magee, deren strahlkräftiger Sopran der Hochdruckpartie der Francesca bis zum Schluss ohne Ermüdungserscheinungen standhält, weite Bögen spannt und selbst im Fortissimo noch Wohlklang verströmt. Marcello Giordanis Tenor dagegen, der zu Beginn mit seiner sonoren Mittellage beeindruckt, verliert in den Liebesekstasen des Paolo zunehmend an Fülle und Schmelz. Von Giovanni, dem del Monaco als Requisit einen Rollstuhl beigibt, aus dem sich der Invalide pathetisch erheben und zu dem er lebensecht hinken kann, erwartet man keinen Schöngesang, wohl aber die dröhnende Kraft, die Juan Pons' Bariton eigen ist. Ein Grossaufgebot an Sängerinnen und Sängern erfordern die kleinen und kleinsten Partien. Da kann das Opernhaus mit seinem vielköpfigen Ensemble aus dem Vollen schöpfen, und das Opernstudio delegiert mit Hélène Couture ein vielversprechendes Nachwuchstalent.

Zusammengehalten wird der ganze Apparat vom Dirigenten Nello Santi. Mit Zandonais Werk seit langem vertraut, versteht er es, mit dem Orchester zwischen den bombastischen Klangmassen auch die impressionistisch verfeinerten Zonen aufzuspüren. An Einsatz für das vergessene Erfolgsstück von einst - «Francesca da Rimini» wurde 1914 wenige Monate vor Kriegsausbruch uraufgeführt - fehlt es also nicht. Trotzdem stellt sich die Frage, ob diese späte Zürcher Erstaufführung den Aufwand lohnt. Wer Sinn hat für das dekadente Zeitklima des vorletzten Fin de Siècle, wird sie positiv beantworten.