Fatale Verführung nach Noten

Herbert Büttiker, Der Landbote (05.06.2007)

Francesca da Rimini, 03.06.2007, Zürich

Dass «Francesca da Rimini» neu ist für Zürich, erstaunt. Noch mehr erstaunt, dass die Oper als Altlast erscheint.

Riccardo Zandonais (1883 –1944) «Francesca da Rimini» kam 1913 in Turin heraus und liess den Komponisten in die erste Reihe der auf Puccini und die Veristen folgende Generation vorrücken. Dem Erbe der grossen Stimme und ihrer emotionalen Hochspannung fügte er bei, was das Gebot der Stunde war: das Raffinement des impressionistischen Orchesterklangs, der geschärften Rhythmik und – was diese Partitur speziell auszeichnet – einer Couleur historique, die für die Bühnenmusik alte Instrumente wie Laute, Piffero, Viola pomposa vorsieht. Vor allem aber hatte er es mit einem Libretto zu tun, das auf der Höhe der Zeit war. Diese hiess damals d’Annunzio. Für das Sechsfache seines Komponistenhonorars willigte dieser in die Bearbeitung seines für Eleonora Duse geschriebenen Dramas ein, das in der Selbstbespiegelung in Renaissance-Herrlichkeit und -Amoralität, in der hochgestochenen symbolistischen Sprachkunst ein Musterbeispiel für die Literatur des Fin-de-siècle war.

In Dantes «Divina Commedia» ist die Skandalgeschichte im Haus der Malatesta zuerst erwähnt. Giovanni überrascht seine Frau Francesca mit dem Bruder Paolo und tötet beide. Boccaccio fügte in seinem Dante-Kommentar das Motiv hinzu, das die Sympathie für das ehebrecherische Paar begründet: Die aus politischem Kalkül zwischen dem hinkenden und hässlichen Fürsten von Rimini und der Tochter aus dem in Ravenna herrschenden Adelsgeschlecht arrangierte Ehe beruht auf Betrug: Man führt der schönen und stolzen Francesca den jüngeren Bruder als Brautwerber vor und lässt sie im Glauben, der attraktive junge Mann, in den sie sich verliebt, sei ihr Bräutigam.

Der weltliterarische Kuss

Das Motiv, das Künstler und Literaten aber vor allem immer wieder angezogen hat, findet sich bereits bei Dante: Für den verhängnisvollen Moment der Grenzüberschreitung ist ein Buch verantwortlich. Bei der gemeinsamen Lektüre werden Paolo und Francesca von einer Kussszene überwältigt, sodass sie sich wie Ginevra und Lanzelot in die Arme fallen. Für die Potenzierung des Literarischen tut d’Annunzio noch Weiteres und für ihn in der von Wagner geprägten Epoche Naheliegendes: Zahlreich sind die Querbezüge zu «Tristan und Isolde». Mit Klangzauber und melodischer Leidenschaft im betörenden Mass tut dann Zandonai das seine, dass auch die Oper von der Verführung nach Buchstaben nicht nur erzählt, sondern sie gegebenenfalls in Noten auch bewirkt: Sie hat ihre hinreissenden Momente.

Dass diese Oper in Zürich noch nie gezeigt wurde, ist vor allem auch deshalb erstaunlich, weil Nello Santi das Werk andernorts immer wieder in herausragenden Produktionen dirigiert hat, zuletzt 1968 an der Met mit Renata Scotto und Placido Domingo. Ohne sich auf Vergleiche einzulassen: Mit Marcello Giordani als Paolo und Emily Magee hat er jetzt ebenfalls die klangvollen Stimmen, die den grossen Herausforderungen gewachsen sind. Aber sein Dirigat, das weniger auf Transparenz als üppigen dramatischen Fluss setzt, bedrängt sie manchmal auch, zumal in den beiden ersten Akten. Berührend artikulierter und phrasierter Gesang kommt dann aber zum Glück in der grossen Duettszene des dritten Aktes und dann wieder in der Schlussszene zu seinem Recht: Wo das Werk auf der Höhe ist, die Inszenierung ins Lot kommt, stimmt für Momente alles – die Faszination dieser Opernrarität wird nachvollziehbar.

Als starken Kontrast zu den Liebesszenen fügen sich im vierten Akt Szenen der brutalen Gewalt: Juan Pons als rauer und im rauen Klang doch Wärme verratender Ehemann und Boiko Zvetanov mit scharfem und präzisem Tenor in der Rolle des dritten, als Verräter und Perversling agierenden Bruders, liefern hier das Kabinettstück eines grimmig untermalten Dialogs der lauernden Hinterhältigkeit und der explosiven Ausbrüche.

Schnellboot und Speer

Aber «Francesca da Rimini» ist nicht nur packendes «Kammerspiel». Für atmosphärische Genreszenen meldet der Besetzungszettel grossen Bedarf an, und das Opernhaus befriedigt ihn mit einem ausgezeichneten Ensemble. Aber auch Regieideen wären da gefragt, von denen das Ausstattungstheater ja nicht dispensiert. Man vermisst sie für Francescas Damenwelt auch für eine einigermassen wirkungsvolle und plausible Kriegsszenerie im 2. Akt. Der mit Speeren bewehrte Männerchor absolviert hier vor dem Bug von d’Annunzios Schnellboot Auftritte in der tiefsten Theaterprovinz. Dass der Regisseur Giancarlo del Monaco heisst, ist allenfalls partiell zu bemerken, etwa in der Zeichnung der Dienerin Smaragdi, der Hélène Couture darstellerisch gekonnt die Aura einer geheimnisvollen Brangäne verleiht. Im ersten Akt erstickt das Geschehen aber auch im hypertrophen Bühnenbild Carlo Cantolavignas. Welkes Pflanzenwerk findet hier in Maria Filippis tüllreichen Kostümen seine blasse Fortsetzung. Immerhin entschädigt der mit langen Umbaupausen verbundene Aufwand dann mit räumlich beziehungsreich gestalteten Interieurs, die im morbiden Luxus die schwüle und artifizielle Atmosphäre der Musik und das fatale Geschehen, das sie evoziert, genau treffen: Alles scheint sich dazu verschworen zu haben, einen überlang werdenden Opernabend spät beginnen zu lassen.