Das Paradies ist ein Bildschirmschoner

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (26.06.2007)

Szenen aus Goethes Faust, 24.06.2007, Zürich

Lassen sich Schumanns «Szenen aus Goethes Faust» überhaupt inszenieren? Eher nein. Das bestätigt Hermann Nitschs Versuch am Zürcher Opernhaus.

Echtes Blut stand nicht zur Verfügung, «aus hygienischen Gründen, der Macht der gesellschaftlichen Tabus und der Ekelgrenzen», wie Hermann Nitsch in seiner etwas eigenwilligen Grammatik im Programmheft beklagt. Blut und Fleisch sind die Hauptmaterialien, aus denen der 69-jährige Wiener Aktionskünstler jenes «Orgien Mysterien Theater» entwickelt hat, für das er in den 50er-Jahren bekannt geworden ist; es muss ihn geschmerzt haben, dass er in Zürich nur ein Kunstschwein aufschlitzen lassen durfte.

In den Werkstätten ist allerdings ganze Arbeit geleistet worden. Wie echt sieht das Schwein aus, und es klingt auch sehr überzeugend, wenn das Gekröse auf den Boden platscht, wenn die mit Kotersatz gefüllten Därme wieder und wieder in die leere Bauchhöhle zurückgestopft werden und Theaterblut über die Wand läuft. Man erlebt es nicht nur live, sondern auch noch in doppelter Projektion. Und vergisst fast das Gretchen darob, das im Vordergrund der Bühne seinen Untergang erlebt.

Der Rest des Abends ist blutfrei, um nicht zu sagen: blutleer. Sobald Faust «sein Inn’res reinigt von erlebtem Graus» (wobei die Waschung hier umständehalber eine äusserliche zu sein hat), übernehmen die offenbar von Goethes Farbenlehre inspirierten Grüns, Rosas und Gelbs die Hauptrolle der Inszenierung, die kaum mehr ist als ein Bühnenbild. Die Personenführung hat Nitsch dem Schweizer Schauspieler Andreas Zimmermann überlassen, und dem ist nicht viel eingefallen.

Sehnsucht nach Erlösung

So schreiten und stehen die Figuren in immer neuen bodenlangen farbigen Gewändern vor ständig sich verändernden farbigen Streifen - auch die Kostümabteilung hat ihr Bestes gegeben, was nichts daran ändert, dass ein Chorauftritt wie die Generalversammlung einer obskuren Sekte aussieht. Einzelne starke Bilder sind in den ersten beiden Abteilungen des Werks noch auszumachen (beim Bild der Mater dolorosa etwa, oder bei Fausts verwunschen-verpixeltem Schloss). In der dritten bleiben dann nur noch computergenerierte Kreise übrig: das Paradies als Bildschirmschoner.

Der optische Teil des «Gesamtkunstwerks», das Nitsch im Sinne hatte, ist damit definitiv nicht auf der Höhe von Text und Musik von Schumanns «Szenen aus Goethes Faust». Das liegt sehr, aber nicht nur am Regisseur; auch andere sind schon gescheitert beim Versuch, dieses eigentlich nicht für die Bühne bestimmte Werk zu inszenieren. Es ist weder Oper noch Oratorium, hat keine Handlung, aber dramatische Intensität; der fragmentarische Charakter, der seit der Uraufführung 1862 Rätsel aufgegeben und Kritik ausgelöst hat, macht die Essenz dieser Komposition aus, die keine Gewissheiten verkünden will.

Dass Goethes Text keine musikalische Illustration ertragen hätte, war für Schumann klar; kaum zufällig hat er gerade jene Teile des «Faust» nicht vertont, in denen tatsächlich Musik vorkommt. Es gibt in seinen «Szenen» kein «Gretchen am Spinnrad», keinen «König von Thule». Dafür den Versuch, die Sehnsucht nach Natur und Freiheit und Erlösung in eine Musik umzusetzen, die sich jedem Schema entzieht. Die Melodien sind nicht auf Höhepunkte aus und steuern auch nicht schnurstracks auf ihre Kadenzen zu; geradezu launisch, wie aus dem Moment heraus, durchstreifen sie Harmonien und Klangfelder. Der Weg ist das Ziel: Danach scheint sich diese Musik zu richten.

Farben, echt

Das kann zuweilen spröde klingen. Allerdings nicht in der Zürcher Oper: Franz Welser-Möst, der ja durchaus seine nüchternen Seiten hat, verbindet hier die Genauigkeit mit einer Energie und Klangsensibilität, die das Werk zum Leuchten bringen. Nie plakativ, nie ungeduldig: Das Orchester der Oper findet den Ton und den Atem dieser Musik - was vielleicht auch damit zu tun hat, dass es sie im April schon einmal konzertant aufgeführt hat (o wärs doch dabei geblieben!). Nach Premierenstress klingt dieser Abend jedenfalls nicht. Das gilt auch für die von Ernst Raffelsberger vorbereiteten Chöre - den Opernhaus-Chor, den Jugend- und den Kinderchor: Bedrohlich, aber nicht brutal wirkt das «Dies irae», ätherisch, aber nie kitschig die finale Erlösungsmusik.

Die musikalischen Farben stimmen, ganz ohne Computer und wortreiche Theorien, auch bei den Protagonisten. Allen voran bei Simon Keenlyside als Faust beziehungsweise Dr. Marianus: Zwar fühlt sich der Brite sichtlich unwohl in seinen diversen Nachthemden, aber er singt mit einer Wärme und Geschmeidigkeit, mit einer (akzentfreien) Sprachkraft und Ausdrucksvielfalt, die ihm derzeit kein anderer Bariton nachmachen dürfte. Ruhe strahlt er aus, genau wie die übrigen Sängerinnen und Sänger. Günther Groissböck als Mephisto/Böser Geist/Pater Profundus gibt seinem Bass eine weniger böse als dunkle Farbe - auch er hat nur seine Rolle in jenem Spiel, das Leben heisst. Das Gretchen von Malin Hartelius singt sich wunderbar schlicht, aber dabei gar nicht mädchenhaft seinem Untergang entgegen. Und Eva Liebau verleugnet in der Rolle der Sorge ihr Flair für heitere Charaktere nicht, bringt aber genau jene Härte in ihren Sopran, die eine der schönsten Partien des Abends auch zu einer der schillerndsten machen.

Am Ende der Festspielpremiere gabs Jubel für die Sänger und den Dirigenten, in den Applaus für Nitsch mischten sich ein paar lustlose Buhs. Die Zeit, da seine Kunst irgendetwas ausgelöst hat, ist wohl vorbei.