Ein Gesamtkunstwerk

Oliver Schneider, DrehPunktKultur (25.06.2007)

Szenen aus Goethes Faust, 24.06.2007, Zürich

Was wären Festspiele, wenn sie nicht Außergewöhnliches bieten würden? Alexander Pereira ist ein Wagnis eingegangen und lud Hermann Nitsch für eine Inszenierung von Schumanns Erlösungswerk "Szenen aus Goethes Faust" ein.

2005 hatte der Wiener Aktionist zuletzt die Gelegenheit, mit der 122. Aktion seines Orgien-Mysterien-Theaters auf der Bühne eines Staatstheaters zu gastieren. Zwei Jahre später beglückt er das Zürcher Publikum mit seiner dritten Arbeit für das Musiktheater und verbuchte am Premierenabend einen Erfolg. 1995 hatte er für die Wiener Staatsoper Massenets "Hérodiade" und 2001 "Satyagraha" von Philip Glass im Festspielhaus St. Pölten erarbeitet.

In Schumanns Werk steht die Erlösung des gescheiterten Menschen durch die göttliche Gnade im Mittelpunkt. Auch Nitsch strebt in seinen Aktionen die Katharsis und die Selbsterkenntnis an, so dass die Faust-Szenen wie für ihn geschaffen scheinen. Wer aber ahnungsvoll einen Abend voller Provokationen mit ausgeweideten Tieren, verspritztem Blut und unangenehmen Gerüchen erwartet, wird angenehm überrascht. Nitsch projiziert Bilder von beredter Ausdruckskraft auf die die Spielfläche begrenzenden Leinwände: Weingärten in der eröffnenden Gartenszene, hochalpine Landschaften, die Galaxie, aber auch abstrakte Bilder in den Regenbogenfarben. In letzteren sind auch die kuttenartigen Kostüme gehalten. Nitsch stellt durch die Wahl der Farben explizit die Verbindung zu Goethes widerlegter Farbenlehre her. Pausenlos folgen die Bilder aufeinander oder werden überblendet, was zuweilen aufgrund der Geschwindigkeit störend wirkt.

Bei der Regiearbeit wurde Nitsch vom Schweizer Schauspieler und Regisseur Andreas Zimmermann unterstützt. Dank einer minimalistischen Personenführung und choreographierten Chorszenen entstehen suggestive Bilder, die für Schumanns Werk einen untermalenden Hintergrund bilden und auf unnötige narrative Elemente verzichten. Schließlich handelt es sich um ein Oratorium. Die hoch ästhetische Bilder erinnern entfernt an die Arbeiten von Robert Wilson. Auch Nitsch und Zimmermann bedienen sich einer bildlichen Symbolsprache. Immer wieder taucht das christliche Kreuz auf, womit auch Schumanns Religiosität ihren Niederschlag in der Inszenierung findet.

Ganz ohne Provokation geht es aber nicht: Während Gretchen im Dom von heftigen Seelenqualen gepeinigt wird, weiden Faust und seine Helfer ein Kunstschwein aus und füllen es immer wieder mit den Eingeweiden und kübelweise Theaterblut. Eine an dieser Stelle überflüssige Aktion, weil sie zu sehr von Gretchens Leid ablenkt und in zu scharfem Kontrast zu den ansonsten eindringlichen Bildern steht.

Trotz der fast einhelligen Zustimmung des Publikums sei die Frage erlaubt, ob Schumanns absolute Musik überhaupt einer szenischen Komponente bedarf, um zu einem Gesamtkunstwerk zu werden. Zumindest in Zürich darf dies dank der kongenialen Leistung von Franz Welser-Möst und allen Beteiligten getrost verneint werden. Der Noch-Generalmusikdirektor wählt einen traditionellen, weichen Interpretationsansatz, setzt aber gleichwohl auf volle Transparenz und kostet die klanggewaltigen Eruptionen in der Ouvertüre mit ihrer prickelnden Spannung und in den Chören aus. Beklemmung löst das "Dies irae" im Dom aus. Stellenweise würde man sich allerdings eine Zurücknahme des Orchesters zu Gunsten der Sänger wünschen. Momente romantischen Glücks und ein unendliches Strömen gelingen in den Bergschluchten mit ihrem lyrischen Charakter und im jubelnden Chorus mysticus. Das Orchester folgt seinem Chef mit konzentrierter Präsenz und viel Glanz in der Holzbläsergruppe.

Auf ebenso hohem Niveau wie das Orchester überzeugen die von Ernst Raffelsberger einstudierten Chöre sowie die Solisten. Simon Keenlyside beeindruckt als Faust mit seinem runden Bariton sowie perfekter Diktion. Malin Hartelius singt das Gretchen mit weich grundiertem Sopran. Günther Groissböck gefällt mit substanzreichem, schwarzem Bass unter anderem als Mephisto. Roberto Saccà verleiht Ariel und dem Pater Ecstaticus seinen lyrisch fundierten Tenor. Punkten kann schliesslich Eva Liebau als Sorge mit glasklarer Stimme.

Insgesamt eine Aufführung, die die Zürcher Festspiele, in deren Mittelpunkt heuer das Oeuvre Schumanns steht, zu mehr als einer sommerlichen Saisonverlängerung werden lässt.