Starke Melodien, zerbrechliche Menschen

Herbert Büttiker, Der Landbote (10.09.2007)

Lucia di Lammermoor, 07.09.2007, St. Gallen

Das Theater St. Gallen eröffnet seine Saison fulminant: mit Gaetano Donizettis Meisterwerk «Lucia di Lammermoor», das als spektakuläre Gesangsoper und abgründiges Psychodrama sorgfältig und packend realisiert wird.

Die «Wahnsinnsszene» ist eines der stärksten Pulver im Giftschrank der Oper. Eine der spektakulärsten und zugleich hellsichtigsten hat Gaetano Donizetti in «Lucia di Lammermoor» komponiert: ein Stück Musik, das mit der Auflösung der Form, mit der expressiven Koloratur, mit der Montage von Erinnerungsmotiven, mit der Soloflöte als Alter Ego der Stimme und mit der Herausforderung aller Gesangskunst vom dramatischen Rezitativ bis zur virtuosen Geläufigkeit eine Szene tiefster Verstörung Klang werden lässt.

Während die Festgesellschaft noch die aus politischen Motiven arrangierte Heirat feiert, tötet Lucia in einem Anfall den Bräutigam und betritt blutbesudelt und geistesabwesend den Raum. Geistesabwesend oder ganz bei sich: Denn die Fesseln von Druck und Gewalt, die Bruder, Clan und Kirche kaltblütig zugeschnürt haben, sind gelöst, die perfid hintertriebene Liebe zu Edgardo ist im Geist wieder lebendig – im Wahnsinn ist auch Befreiung.

Dass man es mit einem der Höhepunkte der romantischen Oper, des Operntheaters überhaupt, zu tun hat, wird jetzt auf der St. Galler Bühne wieder einmal eindrücklich klar. Es arbeiten hier eben die Kräfte auf allen Ebenen, Szene und Orchester, Spiel und Gesang, in die gleiche Richtung, und die Summe macht diesen Opernabend zum Ereignis. Mit der Amerikanerin Evelyn Pollock, die neu zum Ensemble des Theaters gehört, hat diese «Lucia» allerdings auch eine Titelheldin von Format. Man mag beim ersten Auftritt einige Überschärfe registrieren, aber auch schon ein innig konzentriertes Piano, und von Beginn weg ist sie als Figur eindringlich präsent mit klar artikulierender Musikalität und einer in der weiten Skala (bis zum hohen Es ) homogen fokussierten Stimme. Darstellerische Sensibilität geht damit Hand in Hand. In der Mischung aus Hemmung und Exaltiertheit der jungen Frau ist die Gefährdung der jungen verliebten Frau schon mit der Auftrittsarie angelegt, und die Entwicklung zur Wahnsinnstat vollzieht sich im psychologischen Kammerspiel beeindruckend konsequent.

Robust und sensibel

Duettszenen schaffen ein enges Beziehungsfeld von Liebhaber, Bruder, Pastor. Tijl Faveyts gibt den opportunistischen Erzieher mit kräftigem, gelegentlich penetrantem Bass, Luca Grassi imponierend den aufbrausenden Enrico mit dem kernigen Timbre des italienischen Baritons und einem sicheren Griff, der im Spiel glaubwürdig auch physische Attacke bedeuten kann. Der Kontrast zu seinem Gegenspieler Edgardo ist gross und wirkungsvoll. Denn der sensible junge Gefühlsmensch neben dem robusten Typ wird von Edgaras Montvidas mit schlankem, aber durchaus auch expressiv draufgängerischem Tenor differenziert gestaltet, klangschön in den Kantilenen des Liebhabers, aber mit grosser Verve auch im verzweifelten Kampf auf verlorenem Posten und bis an die Grenzen gefordert in der Aria finale, die dem Abgrund der Wahnsinnsszene mit gleicher Wucht als Variante der Verzweiflung die Selbstmordszene gegenüberstellt.

Was auffällt an diesem Ensemble, zu dem auch Juremir Vieira (Arturo), Stefan-A. Rankl (Normanno) und Katja Starke (Alisa) gehören, ist ein konsequentes Musizieren als Rollengestaltung, und da zeigt sich auch die Qualität einer Regie, die nicht mit spektakulären Ideen aufwartet, aber es bestens versteht, den szenischen Moment aus den Figuren heraus zu motivieren. So inszeniert Stefano Vizioli im dunklen, atmosphärischen Bühnenbild von Allen Moyer ein dichtes Spiel, das in der dialogischen Konfrontation ebenso überzeugt wie im Gestus der Arien, realistisch, lebensnah und im Einklang mit den unaufdringlich schönen Kostümen (Annamaria Heinreich), die in etwa die Uraufführungszeit der Oper (1835) evozieren.

Seriöse Arbeit

Und viel Energie kommt aus dem Orchestergraben. Hier wird unter der Leitung von Antonio Fogliani überaus expressiv gespielt, auch begleitende Stimmen treten aussagekräftig hervor, und ein starker dramatischer, man möchte sagen, sinfonischer Zug weht durchs Ganze. Fogliani wählt zügige bis sehr schnelle Tempi. Dabei kommt es, von der sehr irritierenden Harfe einmal abgesehen, nur zu marginalen Unstimmigkeiten. Auch der Chor singt und agiert präzis und differenziert. Es passt ins Bild dieser «werktreuen» Produktion, dass viele übliche Striche aufgemacht sind. Die Duettszene Edgardo/Enrico ist da und sogar die kleine Szena, die Lucias Arie abrundet. Wie wichtig für den Fluss der dramatischen Energie die Schlussgruppen sind, lässt sich hier nachvollziehen, wo sie wie hier mit Erfolg als Herausforderung angenommen werden.