Ein H-Plan für Lucia

Eva Bachmann, St. Galler Tagblatt (10.09.2007)

Lucia di Lammermoor, 07.09.2007, St. Gallen

Glänzende Saisoneröffnung am Theater St. Gallen mit «Lucia di Lammermoor»

Mit Gaetano Donizettis «Lucia di Lammermoor» in der Regie von Stefano Vizioli ist dem Theater St. Gallen ein beglückender Auftakt gelungen. Das Ensemble spielt und singt sich in die Herzen des Publikums.

Am Ende einer Woche der Komplotte und Geheimpläne auf der politischen Bühne zeigte das Theater St. Gallen am Freitagabend bei offenem Vorhang, wie es geht: Da sitzen dunkle Männer am Tisch, Licht fällt nur von der Seite auf die Szene. Ein Schlossherr kurz vor dem Ruin berät sich mit seinem gewieften Sekretär. Zur Rettung muss ein H-Plan her: eine Heirat. Die Schwester Lucia wird mit dem reichen Freund verbandelt. Ein falsches Schreiben ist flugs aufgesetzt. Das Becken zum Waschen der Hände steht auch schon bereit. Den Hüter der Moral lässt man mitspielen, ohne auf ihn zu hören.

In der weissen Hälfte im Vordergrund trifft sich derweil Lucia mit ihrem Liebhaber. Sie wünscht sich ein Leben in Liebe und Frieden. Ungeachtet der Grabsteine, die überall herumliegen, zelebriert das Paar die Harmonie und schwört sich ewige Treue. Und spätestens bei diesem Duett sind die letzten Gedanken an das Gezerre in der Politik verflogen. Das Schauspiel zieht Ohren und Augen in seinen Bann.

Verschworenes Team

Der Chor, einstudiert von Michael Vogel, ist voller Tatendrang aus den Sommerferien zurückgekehrt. Spielfreudig bevölkert er die Szenen, der Klang ist homogen und drängt stets ein bisschen vorwärts. Das Orchester trumpft gern auf, Antonino Fogliani liebt rauschende Tutti, setzt aber auch Farbtupfer, indem er einzelne solistische Passagen, insbesondere in den Bläsern, effektvoll hervorholt. Einziger Wermutstropfen ist die jämmerlich verstimmte Harfe. Laut Konzertmeister Andrzej Kowalski ist kurz vor dem Solo am Anfang des zweiten Bildes eine Saite gerissen, und zum Beheben hätte die Vorstellung unterbrochen werden müssen.

Erfreulich ist die geschlossene Leistung der Hauptdarsteller. Mit Ausnahme von Juremir Vieira, der den arrangierten Bräutigam Arturo so verhockt singt, wie er ihn spielt, ist hier ein Ensemble von jungen, schlanken Stimmen am Werk – und ein verschworenes Team, das gern spielt. Es wird gestreichelt und geküsst, geschlagen und gewürgt, es werden Messer gezückt und Stühle umgestossen. Regisseur Stefano Vizioli vermeidet die abgedroschenen Operngesten, das Spiel auf der Bühne soll möglichst natürlich wirken. Ohne dass es in Aktionismus ausartet, werden mit kleinen Gesten Umschwünge eingeleitet, Mimik und Blicke unterstützen die Handlung.

Ein wesentlicher Stimmungsmacher ist auch die ausgeklügelte Lichtregie von Guido Petzold. Schwarz und dämmerige Töne sind im hinteren Teil vorherrschend, da fallen nur einzelne Schlaglichter auf die Szene. Der vordere Teil hingegen kann gleissend hell leuchten. Er wirkt denn auch weit, während die Tiefe des Einheitsbühnenbilds von Allen Moyer eine Schachtel ist, die sich zunehmend verengt. Möbliert sind die Szenen einzig mit einem langen Tisch und ein paar Stühlen. Die Sängerinnen und Sänger haben also freie Bahn, um sich in Szene zu setzen. Unter dem grossen darstellerischen Einsatz leiden weder die Präzision noch die Entfaltung der Stimmen.

Alles spitzt sich zu

Luca Grassi als Enrico ist als Bariton ein Kraftmeier, ohne dass er zu forcieren brauchte. Seinen Adlaten Normanno gibt Stefan-A. Rankl geschmeidig und ohne sich zu verstecken. Tijl Faveyts singt den Beichtvater Raimondo mit einem Bass von berückender Klarheit und Wärme. Edgaras Montvidas ist ein sehr agiler und unglaublich präsenter Edgardo, als lyrischer Tenor ein Liebhaber wie aus dem Bilderbuch für die Lucia Evelyn Pollock, die neue Sopranistin des Ensembles. An ihrer Seite hält Katja Starke als Alisa wacker mit.

Schon in den ersten Bildern nehmen diese Stimmen für sich ein, doch über die fast drei Stunden der Aufführung – die Zeit vergeht im Flug – vermögen sie sich noch zu steigern, werden intensiver im Ausdruck. Allen voran Evelyn Pollock. Sie darf leicht und lieblich beginnen, ihre Koloraturen purzeln verspielt, die Spitzentöne zügelt sie gekonnt. Später wird die Höhe laut, gellend wie der Schrei einer Verwundeten. Faszinierend ist, wie sie es schafft, über den ganzen Abend eine grosse Spannung aufzubauen. Ihre Stimme wird schärfer, ohne an Geschmeidigkeit zu verlieren, parallel dazu werden die Bewegungen kantiger und schliesslich zu Ticks. Alles spitzt sich zu auf die Wahnsinnsarie im dritten Akt, in dem sie, begleitet nur von der Flöte, in irrer Verzweiflung über ihre Schuld schliesslich zusammenbricht. Da blieb einem die Luft weg über diese Unmittelbarkeit des Hochemotionalen, das gleichzeitig so kontrolliert ist, dass kein Ton daneben geht.

Theatercoups mögen dieser Tage die Lieblingsbeschäftigung von Politikern sein, die sich in Szene setzen wollen. Das Theater aber hat seine Arbeit gemacht. In dieser «Lucia di Lammermoor» gehen Darstellung und Musik Hand in Hand und erzählen zusammen eine grosse Geschichte, die anrührt und plausibel ist in ihrer Steigerung bis in den tödlichen Wahnsinn. Die gefeierte Premiere war ein Einstand, der Lust macht auf mehr.