Statt in der Wüste liegt Mahagonny in heiler Alpenwelt

Konrad Rudolf Lienert, Tages-Anzeiger (02.10.2006)

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 30.09.2006, Bern

Kapitalismuskritik als Oper: Harry Kupfer inszeniert «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny» in Bern.

Einen Hurrikan wird es vermutlich niemals geben in den Schweizer Alpen. Doch wen stört das? - schliesslich bleibt auch in Brecht/Weills Oper die erwartete Sturmkatastrophe bloss Befürchtung. So hat es durchaus Sinn, wenn der schrottreife Kampfhelikopter, dem die Witwe Begbick mit ihren zwei ebenfalls steckbrieflich gesuchten Kumpanen entsteigt, um dort eine kapitalistische Hochburg zu errichten, nicht in der amerikanischen Wüste, sondern im einheimischen Aletschgebiet gelandet ist.

Denn die Zeigefinger Brechts und seines Interpreten Harry Kupfer sind ganz klar auf uns gerichtet. Die Zeitkritik, schon anlässlich der Uraufführung von 1930 als «allzuheutig» abgetan, meint uns und unsere jetzige Befindlichkeit. Das wird spätestens in der letzten Szene sichtbar, wo eine Demo über die ganze Bühne des Berner Stadttheaters läuft, bei der die Transparente zu Themen der aktuellen Schweizer Politik sich sämtlich umdrehen und in ihr Gegenteil verkehren lassen.

Erstmals seit zwanzig Jahren wieder

Der Einfall, für den Berner Beitrag zum Brecht-Gedenkjahr Regisseur Kupfer zu engagieren, war mehr als gut. Mit seiner für den hiesigen Spielort kräftig adaptierten Dresdner Version bringt Kupfer, der seit mehr als zwanzig Jahren erstmals wieder in der Schweiz inszeniert, eine Geschichte mit: seine eigene und die einer langen, wechselvollen Interpretationstradition.

Doch wie wird diese auf den neuesten Stand gebracht? In der Komischen Oper Berlin, wo «Mahagonny» vor kurzem ebenfalls Premiere hatte, ist man den asketischen Weg gegangen, mit einer leeren Bühne, mit dem Verzicht auf alles Atmosphärische. Nicht so in Bern: Hier entfalten Kupfer, sein Bühnenbildner Hans Schavernoch und der Kostümentwerfer Yan Tax lustvoll noch einmal das ganze Panoptikum kapitalistischer Rauschzustände - um sie ebenso lustvoll zu verdammen.

Konsumgier, Sex vom Fliessband, Fastfood-Orgien, Besäufnisse, Wellnesreligion und Mediengeilheit, Sportbesessenheit, Korruption, all das spielt sich in schrillen Farben vor einem grandiosen Alpenpanorama in ständig wechselnder Beleuchtung ab. Dass in diese heile Welt auf Bildschirmen und durch Projektionen immer wieder Verweise auf globale Bedrohungen, Krisen hereinflimmern, wäre nicht einmal nötig. Der Aletschgletscher selber wirkt bedrohlich genug, wer weiss schon, wann er tatsächlich zur Wüste wird?

Mit «Mahagonny» ging das Zusammenspiel von Bertold Brecht und Kurt Weill zu Ende. Der Komponist pocht in dem Stück schon hörbar auf sein eigenes Recht, auf das seiner Musik. Auch sie wirkt in der Berner Aufführung unter der Leitung von Daniel Inbal grell, plakativ - und immer wieder überraschend opernhaft.

Mit dem Berner Symphonie-Orchester, mit Karan Armstrong als Witwe Begbick, mit Hendrik Vonk als Jim Mahoney, dessen Zahlungsunfähigkeit der elektrische Stuhl bestraft, mit Noëmi Nadelmann als Jenny Hill, Richard Ackermann als Dreieinigkeitsmoses, Uwe Schönbeck als Sprecher und mit all den anderen - nicht zu vergessen der Chor (Leitung Lech-Rudolf Gorywoda) - hat sich ein Ensemble zusammengefunden, das an der Premiere vom Samstagabend das Lehrstück auch musikalisch zum Vergnügen machte.