Neu gesehene «Entführung»

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (14.09.2007)

Die Entführung aus dem Serail, 12.09.2007, Basel

Zeitreisen in den Orient, nach Kreta und ins schottische Hochland.
Saisonbeginn an den Opernbühnen von Basel, Luzern und St. Gallen.

Der September ist an den Schweizer Bühnen die Zeit der Saisoneröffnung. Die jüngsten Opernpremieren in Basel, Luzern und St. Gallen haben mehr als blosse Momentaufnahmen vermittelt.

Von den Eröffnungspremieren erwartet man, dass sie ein Signal setzen, sei es mit einem ungewöhnlichen Werk, sei es mit einem Zugstück, welches das Haus schon zu Saisonbeginn füllt. Für letzteres Konzept haben sich diesmal die Theaterleiter in Basel und St. Gallen entschieden, in Luzern steht zwar eine Mozart-Oper auf dem Programm, doch eine der weniger bekannten. Gross ist die Spannweite der Aufführungsstile.

Neu gesehene «Entführung»
Der Basler Theaterdirektor Georges Delnon, der vor einem Jahr mit Prokofjews «L'amour des trois oranges» originell begonnen hat, geht seine zweite Saison konventioneller an, mit Mozarts «Entführung aus dem Serail». Doch die Lesart der «Türkenoper» ist so speziell und spannend, dass man ein neues Stück kennenzulernen glaubt. Und dies nicht nur szenisch, sondern auch musikalisch. Attilio Cremonesi und das im (erhöhten) Orchestergraben sitzende Basler Kammerorchester bringen viel von den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis in ihr Musizieren ein, vor allem erzielen sie mit phantasievollen Verzierungen, transparentem, reich gestuftem Ton, genau gesetzten Fermaten und Pausen eine höchst lebendige Klangrede.

Auch das Sängerensemble macht sich diesen Stil zu eigen, insbesondere die Auszierungen, und bringt vokalen und gestischen Ausdruck zu nahtloser Übereinstimmung. Wie Laura Aikin ihre brillanten Koloraturen zu Schmerzenslauten und Verzweiflungsschreien macht, das muss man gehört haben. Doch neben dieser phänomenalen Konstanze können die Ensemblemitglieder durchaus bestehen: Rolf Romei als Belmonte mit etwas labiler Höhe, Agata Wilewska als ganz und gar nicht soubrettenhafte Blonde, Karl-Heinz Brandt als ernstzunehmender Pedrillo und Stefan Kocán als junger, unglaublich präsenter, stimmlich etwas schwergewichtiger Osmin.

Ungewöhnlich wie die Charakterisierung der Figuren ist auf Marsha Ginsbergs Bühne der Ort der Handlung: kein Serail, sondern eine grosse Baracke mitten in einer amerikanischen Wüste. Nur die drei Wörter «Muslim go home» auf der Türe spielen auf den (heutigen) Konflikt zwischen Orient und Okzident an. Und es genügt, dass Pedrillo lässig mit Hanteln trainiert, derweil Osmin die Buchstaben wegzuschrubben versucht, um den Gegensatz zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten vor Augen zu führen.

Die Baracke aber ist mehr als ein reales Gebäude, sie steht in Christopher Aldens Inszenierung für den inneren, unheimlichen Ort, den die Menschen in sich tragen, einen Ort, in dem sie nicht physisch gefangen sind, aber von dem sie nicht loskommen. Nur unter Ängsten und Zweifeln können sie ihm entfliehen und Freiheit erringen. Doch auch da gibt es Unterschiede: Während sich Konstanze und Belmonte am Schluss an den Bühnenrand absetzen, wollen sich Blonde und Pedrillo von ihrem komfortablen Hausrat nicht trennen. Der Bassa (Urs Bihler) verkörpert in diesem metaphorischen Haus das – bis auf wenige, inkonsequente Ausnahmen – unsichtbare väterliche Über-Ich, dessen eindrückliche Stimme aus dem Lautsprecher erschallt.