Auf den Kopf gestellt

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (14.09.2007)

Die Entführung aus dem Serail, 12.09.2007, Basel

Mozarts «Entführung aus dem Serail» zum Saisonstart am Theater Basel.

Vieles ist neu, fast alles ist anders in der Neuproduktion von Mozarts Singspiel am Theater Basel. Vor allem das Orchester gefällt.

Die Ouvertüre › tausendmal gehört. Aus dem hochgefahrenen Orchestergraben klang sie anders als gewohnt: feinnervig, schlank, ohne forcierte Türken-Brutalität, dafür mit barocken Auszierungen, von denen Mozarts Partitur noch nichts weiss. Zum ersten Mal eröffnete das Kammerorchester Basel eine Basler Opernsaison. Und dass da ausnehmend kompetente Musiker mit viel Erfahrung im barocken und klassischen Repertoire am Werk sind, ist unverkennbar. Auch nach drei Spielstunden tönen die Holzbläser noch quicklebendig, die Streicher durchsichtig, das Ganze homogen und farbig.

Dirigent Attilio Cremonesi hat sein Orchester fest im Griff, setzt immer wieder sehr nachdrückliche Gestaltungsakzente (etwa in der Belmonte-Arie «Konstanze …» im ersten Akt) und führt die Sängerensembles straff. Wären da nicht die schleppend langsam und allzu pausenfreudig und manieriert hingestolperten Bremsklotz-Dialoge, wäre von einem Abend der durchgehaltenen musikalischen Spannung zu sprechen.

Womit wir bei der Regie wären, die in den Händen des Amerikaners Christopher Alden liegt (Bühne: Marsha Ginsberg). Dieses kühne Team bürstet das Stück ganz ordentlich nach modischer Regietheater-Manier gegen den Strich. Der Serail › eher ein abgelegenes ländliches Camp als ein Palast › liegt hier nicht im Orient, sondern vielleicht irgendwo in den Weiten Amerikas. Jemand hat auf die ärmliche Baracke des Bassa Selim «Muslims go home!» geschmiert: Die Muselmanen sind hier selber fremd. Oder wie Karl Valentin wusste: Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. Der Bassa › meist hört man ihn über Lautsprecher › ist ein geheimnisvoller Sektenführer (furchterregend: Urs Bihler), der an seinem bescheidenen Hof eine Schar treu ergebener Anhänger (der gut geölte Basler Theaterchor), die sich zu spiritistischen Séancen treffen, und einige verzweifelte europäische Geiseln hält.

TRASH. Belmonte liegt zuerst in einem Schlafsack, der irgendwie penetrant an Guantánamo erinnert, wie überhaupt eine billige Plastik-Trash-Gefängnishof-Ästhetik, Schäferhund inbegriffen, die Bühne prägt. Der Gefangene windet und krümmt sich zu seiner Auftrittsarie jämmerlich, und auch danach singt er meist im Liegen. Dass man so nicht sauber intonieren kann, ist verständlich. Dass es der Tenor Rolf Romei trotz schönem Material auch sonst nicht kann und mit den Verzierungen Mühe hat, muss man später zur Kenntnis nehmen.

Seine Konstanze hat nicht nur einige der schönsten Mozartarien überhaupt zu singen, sie ist auch ein Leuchtturm im Basler Ensemble. Laura Aikin heisst die sonst an prominenteren Opernstätten tätige amerikanische Sopranistin, die das Theater Basel als Ersatz für die erkrankte Maya Boog engagiert hat. Ihre «Traurigkeit»- und ihre «Martern»-Arien stattet sie mit Leidenschaft, Kraft und strahlenden Koloraturen aus › ein Lichtblick in einer sängerisch leider ziemlich heterogenen Aufführung.

Dass Alden das Paar Konstanze/Belmonte nicht als liebendes Traumpaar zeichnet, sondern das Misstrauen und die Brüche in ihrer Beziehung zeigt (liebt Konstanze am Ende nicht doch den Bassa Selim?), ist kein Regie-Gag, sondern stückgerecht. Die Zweifel finden ihre Bestätigung im Quartett am Ende des zweiten Akts, das diesem Singspiel über alle Janitscharen-Munterkeit eine tief ernste Grundierung gibt.

TERROR. Immerhin, da ist noch Stefan Kocán als profunder Schwarzbass-Osmin, ein wild gewordener Hausmeister, der in der Basler Aufführung die Rolle eines Amokläufers spielt. Er dient treu dem Bassa und wird zugleich die Behausung seines Herrn und Meisters anzünden › aus Enttäuschung darüber, dass er das Blondchen doch nicht kriegt. Ohne Bezüge zu modernen Formen des Terrorismus geht es auf heutigen Opernbühnen halt offenbar nicht ab.

Und da ist die Blonde (mit schwarzer Perücke, wieder so eine nette, völlig harmlose Verkehrung), von Agata Wilewska inklusive Double (warum nur?) mit leuchtenden Spitzentönen und improvisatorischem Stimmwitz dargeboten.

Karl-Heinz Brandt als Pedrillo ist sängerisch nur durchschnittlich. Dem Tenor, dessen Rollenzeichnung an vergangen geglaubtes Unterhosen-Theater und an Comedy-Humor à la «Schuh des Manitu» erinnert, gerät alles eine kräftige Spur zu buffonesk, und seine an sich wunderbare Romanze zu herrlicher Pizzicato-Streicherbegleitung im dritten Akt klingt so schlagerhaft sentimentalisiert, als verwechselte der Sänger die «Entführung» mit den «Sekretärinnen».

TÜRKEN. So muss man denn in dieser fast immer überraschenden, stellenweise sehr unterhaltsamen und dann wieder arg zähflüssigen Inszenierung ganz ohne türkisches Kolorit durch ein Wechselbad der Empfindungen hindurch. Das Premierenpublikum war wie der Kritiker auch einigermassen hin und her gerissen zwischen Entzücken und Befremden. Immerhin: Gleichgültig lässt diese Inszenierung, in die so viele gute und weniger gute Ideen eingeflossen sind (zu den besseren zählt die Finalszene mit dem auf der Bühne versammelten Flucht-Hausrat), wohl niemanden. Kein misslungener, aber auch kein beglückender Start in die neue Theatersaison.