Es ist die Musik, die erzählt

Christian Fluri, Mittelland Zeitung (14.09.2007)

Die Entführung aus dem Serail, 12.09.2007, Basel

Theater Basel Saisoneröffnung mit «Die Entführung aus dem Serail»: Christopher Alden blickt von heute aus auf Mozarts Oper. Doch seiner Regie fehlt die Spannung.

Kein Serail, kein Palast, Wolfgang Amadé Mozarts Singspiel «Die Entführung aus dem Serail» spielt am Theater Basel in und um eine Baracke in der vorstädtischen Öde. Der New Yorker Regisseur Christopher Alden, der erstmals am Theater Basel inszeniert, und seine Bühnenbildnerin Marsha Ginsberg haben einen Raum der Öde geschaffen. Was hat dieser Ort mit Mozarts Oper zu tun, fragt man sich.

Mit den ersten Tönen der Ouvertüre jedoch richtet sich die Konzentration auf Mozarts Musik, die sehr präsent klingt: Der Orchestergraben ist weit hochgefahren. Der international renommierte Dirigent und Alte-Musik-Spezialist Attilio Cremonesi, der regelmässig mit dem Basler Barockorchester «La Cetra» zusammenarbeitet, dirigiert das «kammerorchesterbasel», das im Theater debütiert.

Der Italiener lotet Mozarts Partitur bis in all ihre Extreme aus, entwickelt enorme Dramatik. Spannungserzeugend auch sein Umgang mit den Tempi. In Adagio-Passagen lässt er den Fluss stocken, macht deutlich, wie Mozarts Figuren an sich zweifeln, zögern, sich ihrer Gefühle unsicher sind. In harten Kontrast dazu setzt er die schnell gespielten Allegro-Teile, die uns mal vom Zorn der Figuren, dann wieder von Momenten der Euphorie erzählen. Da swingt Mozarts Musik wunderbar. Die Pausen kostet er aus, hält gleichsam die Handlung an: ein kurzes Zaudern, Nachdenken. Rhythmisch prägnant und packend erklingen die Janitscharen-Teile. Wieder herausragend singt der Chor, die Janitscharen-Gesänge reissen mit.

So plastisch und detailgenau gestaltet, sind es zuerst die Musik und der ergreifend gestaltete Gesang, die uns eindrücklich von den emotionalen Konflikten und der inneren Zerrissenheit der Figuren erzählen. Im «kammerorchesterbasel» hat Cremonesi einen Klangkörper, der in allen Registern › mit den rau tönenden Naturhörnern und -trompeten › wunderbar spielt.

Was aber erzählt Regisseur Christopher Alden? Konstanze, Blonde und Pedrillo sind nicht Sklaven, die der orientalische Fürst Bassa Selim von den Piraten losgekauft hat. Sie sind hier › wie auch Konstanzes Geliebter Belmonte, der sie befreien will › Gestrandete, orientierungslose junge Menschen von heute auf der Suche nach ihrer Identität. Auch Bassa Selim und Osmin › hier sein Freund und nicht sein Diener › sind gestrandet, von der Gesellschaft ausgegrenzt. Der Orient-Mythos, den Mozarts Singspiel transportiert, ist nach dem 11. September vollends zerbrochen. Der Muslim ist ganz zum Outcast degradiert: «Muslims go home» ist auf die Tür der Baracke gesprayt.

Alden verknüpft mit der Geschichte der Gestrandeten noch eine weitere. Mozart hat sich mit der «Entführung aus dem Serail» aus den Fängen seines Vaters und seiner Vaterstadt Salzburg frei geschrieben. Alden sieht die zwei Paare Konstanze und Belmonte sowie Blonde und Pedrillo als junge Menschen auf der Suche nach ihrer Identität. Bassa Selim setzt er deshalb als Vaterfigur, von dem sich die Jungen nicht lösen können.

Einmal will die Verknüpfung der beiden Geschichten nicht recht gelingen. Zudem ist der Basler Bassa als Outcast alles andere als eine dominante Figur. Mozarts Orient-Fürst aber ist ein aufgeklärter Herrscher und souveräner Mann, der mit feinem Empfinden, mit Menschlichkeit und Charme, Konstanzes Begehren weckt. Kann das eine Vaterfigur? Vielleicht. Aber der Basler Bassa kann es nicht. Alden lässt ihn zuerst wie ein abgetakelter «Big Brother» › nicht sichtbar › über Lautsprecher zu Konstanze reden. Kommt er später in brauner Windjacke daher und verbirgt sein Gesicht hinter der Kapuze, zeigt er sich als unsicherer, ängstlicher Mann. Schauspieler Urs Bihler gibt die Sprechrolle Bassa Selim präzis so, wie es die Regie verlangt › als schwache Figur.

Dieser Bassa soll Konstanze faszinieren, sie an ihrer Liebe zu Belmonte zweifeln lassen? Was ist denn der Grund für ihren emotionalen Sturm? Obwohl Aldens Bild dazu stark ist: Ein Sturm weht beide fast weg und herumliegenden Zivilisationsabfall, den sie ja los werden möchten, vor die Hütte.

Auch Belmonte ist zu einfach gezeichnet. Er ist bei Mozart auch ein selbstverliebter Schwärmer, der seine Geliebte vor den Kopf stösst, wenn sie sich erstmals im «Serail» begegnen: Belmonte weidet sich in seiner Sentimentalität und seinem Liebesschmerz, beachtet Konstanze selbst kaum. Doch Alden lässt ihn am Anfang noch feige im Schlafsack zum Haus kriechen. Wie soll er in dieser Wurm-Haltung auch nur davon träumen, seine Verlobte zu befreien? Zum Glück versteht es der mit schönem Schmelz singende Tenor Rolf Romei seiner Figur mehr Facetten zu geben.

Konstanze ist differenzierter gezeichnet, ihre emotionalen Konflikte sind herausgearbeitet › so wenn sie, von ihrem Verlobten enttäuscht, sich kurz abwendet. Und Laura Aikin gestaltet die innere Zerrissenheit mit ihrem warmen, perfekt geführten Sopran eindrücklich.

Schriller sind Blonde und Pedrillo: Agata Wilewska und Karl-Heinz Brandt (kaum forcierend) kosten diese Seite im Gesang herrlich aus, ebenso die emotionale. Alden hat die Figur der Blonde verdoppelt, geteilt in die sinnliche und in die taffe Frau (gut gespielt von Arlene Moos), die zuschlägt, wenn sie provoziert wird. Warum erfährt gerade Blonde und nur sie eine Verdoppelung? Das bleibt unklar.

Die vier Gestrandeten haben eine Gemeinsamkeit bei Alden: Sie sind Melancholiker, letztlich unfähig zu handeln. Das ist eine Seite dieser unsicheren, im Serail nach Orientierung suchenden Figuren, von der Mozarts Musik erzählt › aber nur eine. Doch so oder so bilden sich zwischen ihnen Spannungsfelder. An der notwendigen inneren und äusseren Spannung aber fehlt es Aldens Regie. Das ist ihr grösster Mangel. Die Dialog-Passagen hängen durch.

Und den Osmin, der zur Gewalt neigende Underdog, zeigt die Regie nur in seiner gehemmten Aggressivität, die er auch hat. Zwar sehen sich Pedrillo und Blonde dem simplen Diener weit überlegen, aber gerade Pedrillo fürchtet sich auch vor ihm. Denn Mozart gibt dem Osmin eine offen gewalttätige Seite. Diese vermittelt uns wenigstens der mit kräftigem, dunklem Bass ausgezeichnet singende Stefan Kocán. Nur im Schlussquartett des zweiten Aktes von Konstanze, Blonde, Belmonte und Pedrillo, wenn sich Osmin als Verlierer erkennt, gibt er seiner Aggressivität freien Lauf, zündet das Dach des Hauses an. Ein gelungenes Bild, das uns sagt, dass auch bei den beiden Paaren Feuer im Dach ist.

Die Flucht-Szene setzt Alden mit Witz. Die Jungen wollen all ihre lieb gewonnenen Utensilien und Geräte, vom Fernsehen bis zur Stereoanlage mitnehmen. Da muss die «Entführung» scheitern. Nun schickt Bassa Selim selbst die Vier hinaus in die Fremde und Eigenständigkeit. Blonde und Pedrillo sind schnell weg, Konstanze und Belmonte hocken immer noch zögernd da. Die Hütte mit Bassa Selim verschwindet. Als grosser Verlierer bleibt Osmin zurück.

Trotz des schlüssigen Schlussbildes kann Christopher Aldens Inszenierung nicht überzeugen. Begeistern können nur die musikalische Interpretation und die sängerischen Leistungen. Das Premierenpublikum spendete dem Chor, den Solisten, dem Orchester und Cremonesi starken Applaus, dem Regie-Team freundlichen; durchsetzt war dieser mit einigen Buhs.