Mit Getöse ins Verderben

Hanspeter Renggli, Der Bund (02.10.2006)

Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 30.09.2006, Bern

Harry Kupfers bunte Inszenierung von Weills und Brechts «Mahagonny»-Oper am Berner Stadttheater

Der deutsche Regisseur präsentiert eine Inszenierung der vielen bunten Details und eine fein studierte Choreografie der Gruppen, die aber nur allmählich und mit viel Kraftaufwand in Schwung kommt.

Einen musikalischen Bilderbogen hat Kurt Weill, der Komponist von «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny», seine dreiaktige Oper genannt. Der Textautor Bertolt Brecht erzählt in der «Mahagonny»-Parabel den spiessbürgerlichen Traum von Freiheit und Glück, der schnell durch Korruption und Aufruhr hintertrieben wird.

Brecht und Weill waren sich der Ausnahmestellung des Werks durchaus bewusst. Weill reklamierte gar für sich, einen neuen Weg des Musiktheaters beschritten zu haben. Er hatte Ansprüche an die Sänger gestellt, die kaum mehr von singenden Schauspielern zu bewältigen waren. Dieser Umstand ist bis heute ein Dilemma geblieben. Hatte Brechts Berliner Ensemble das Werk 1963 noch mit Schauspielern besetzt, so hat sich seither die Aufführungspraxis mit Opernsängern durchgesetzt. Gesprochen wird aber trotzdem, und der Gesang muss aus der Sprache und ihrem Rhythmus gestaltet werden.

Erstens kommt das Sprechen

Die deutsche Sprache scheint nun aber gerade in der Berner Einstudierung für so manche ein Handicap zu sein. Die Schwierigkeiten, dem Sprechgesang die rechten Akzente zu verleihen, werden verständlicherweise noch gesteigert, wenn aus dem Orchestergraben eine Bandbreite an grossen Klang- und Geräuschpegeln aufsteigt. So vermochte sich Karan Armstrong, die spielerisch durchwegs mit Intensität beeindruckte und den eingeimpften Jazzsound gekonnt umsetzte, bereits im ersten Song nur mit grosser Anstrengung gegen den massiven Bläserklang durchzusetzen.

Erstaunlich auch, dass Hendrik Vonk als Jim, dessen Stimme als leicht indisponiert angekündigt wurde, nicht das Singen, sondern das akzentuierte Sprechen sichtlich Mühe bereitete. Dass nicht-deutschsprachige Sänger ihren Akzent nicht zu verbergen brauchen, versteht sich. Aber Brechts und Weills Sprache geht nun mal von den Gegebenheiten des Deutschen aus. So wäre jedenfalls Arkadius Burski als Bill und Pier Dalàs als Joe etwas Sprechtechnik ans Herz zu legen.

Aus dieser Perspektive ist etwa der Umstand, dass Uwe Schönbeck als Sprecher fungierte, als Besetzungsluxus zu bezeichnen. Selbst Richard Ackermann, dessen Dreieinigkeitsmoses in jeder Hinsicht «gute Figur» machte, hatte auch mit seiner grossen Stimme mitunter viel Kraftaufwand einzulegen. Dass eine zwischen Begleitung und Gesang ausgewogene Interpretation möglich war, demonstrierte vor allem Noëmi Nadelmann im Song «Wie man sich bettet, so liegt man».

Die Partie der Jenny scheint Nadelmann auf den Leib geschnitten. Es ist denn auch eine besondere Qualität des Regisseurs Harry Kupfer (siehe «Bund» vom Samstag), die besonderen Vorzüge der Sängerinnen und Sänger zu erkennen, das heisst eben nicht bloss Rollen umzusetzen. Hans Schavernoch hat dem Regisseur eine ebenso spektakuläre wie grell-bunte Bühne vorgegeben, in dessen Zentrum ein abgestürzter Hubschrauber vor grossartiger Schweizer Berg- und Gletscherkulisse als einzigartiger Blickfang fungiert. Auf, in und um dieses Ungetüm mit seinen weit ausladenden Rotorblättern choreografiert Kupfer (Ko-Regie: Angela Brandt) die Menschen. Mit gewohnt hohem Körpereinsatz hält er die Gruppen in Bewegung.

Reizvolle Bilder

Wie immer liegen der Reiz der Bilder bei Schavernoch und Kupfer in den Details, die als Versatzstücke oder als bewegte Bilder aus Bildschirmen zum Denken anregen sollen, ohne dass deren Aktualitätsbezug vergessen geht. Die vordergründig heile Welt der Alpenkulisse, vermengt mit Schweizer und Berner Klischees wie Chalets, Bundeshaus oder Casino, wird ständig durch Anspielungen auf den Krieg oder die Grossfinanz konterkariert. Und die lustreiche Ruhe des Sanatoriums ist auf Betrug gebaut.

Daniel Inbals Debüt

Weills Musik ist vielfältig und bunt. Jazz und Tanzmoden der Zwanzigerjahre wechseln mit einer Vielzahl an ironischen Zitaten aus der bürgerlichen Musikkultur. Das Berner Symphonie-Orchester stellt sich brillant auf die ständig wechselnden stilistischen Charaktere ein, und die Bläser demonstrieren viel Gefühl für die schillernden Sounds. Gespannt war man auf das Berner Debüt des musikalischen Leiters Daniel Inbal, der in dieser Saison als erster Kapellmeister wirkt. Zu oft aber entglitt Inbal die Klangkontrolle, dominierten Lautstärke und Getöse aus dem Graben. Die zugegebenermassen papieren klingenden Teile wie Ouvertüre, Fugati oder Choräle wirkten geradeaus, und erst allmählich kam Schwung ins Spiel.

Kupfer hat Brechts und Weills «Mahagonny»-Parabel nicht neu gedeutet. Aber er hat gemeinsam mit Schavernochs optischen Anspielungen an die schweizerische wie internationale Aktualität den gesellschaftskritischen Impuls des Werks in die Gegenwart gerückt. Ein etwas gelenkigerer Umgang mit dem bunten Strauss an Musik und etwas mehr Vertrauen in die Sprache Brechts hätte der ideenreichen Inszenierung gut getan.