Unterkühlte Leidenschaft

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (01.10.2007)

Andrea Chénier, 30.09.2007, Zürich

Die gestrige Premiere von Umberto Giordianos „Andrea Chénier“ hinterliess einen eher zwiespältigen Eindruck. Selten habe ich so viele Leute nach dem Schluss eines Werkes weggehen sehen, während der Zuschauerraum noch im Dunkeln lag. Einige Unentwegte klatschten die Solisten noch ein paar Mal heraus, so dass diese nicht ganz ernüchtert nach Hause mussten.

„Andrea Chénier“ ist eine Oper voller Leidenschaft, sowohl vom Libretto wie von der Musik her. Eine klassische Dreiecksgeschichte, eingebettet in den Rahmen der Wirren der französischen Revolution.

Charles (Carlo) Gérard ist Diener bei der Gräfin Coigny, die eine Tochter hat (Madeleine / Maddalena). Anlässlich einer Soirée in den Räumen der Gräfin beleidigt die Tochter den anwesenden Dichter André (Andrea) Chénier. Dieser hatte sich trotz Bitten der Gräfin geweigert, etwas zum Besten zu geben; Maddalena wettet mit ihren Freundinnen, dass sie den Dichter dazu bringen werde, das Wort „Liebe“ zu benutzen. Chénier fällt auf die List herein, indem er behauptet, die Muse sei ebenso launisch wie die Liebe. Als Maddalena ihn nun verhöhnt, bekennt Chénier seine Liebe zur Heimat in einem fulminanten Plädoyer für die Armen und Unterdrückten, was die vornehme Gesellschaft schockiert. Nur Maddalena versteht ihn und bittet ihn um Verzeihung. Nachdem Gérard eine Gruppe ausgehungerter und zerlumpter Personen eingelassen hat und die Gräfin ihn dafür auf die Strasse setzt, wirft dieser seine Livrée der Gräfin vor die Füsse. Sie entschuldigt sich bei den Gästen für die peinlichen Vorfälle und lässt die unterbrochene Gavotte wieder aufnehmen.

Gérard ist unterdessen zu einer der führenden Persönlichkeiten der Revolution aufgestiegen, kann aber Maddalena, die er leidenschaftlich liebt, nicht vergessen. Er beauftragt einen Spitzel, sie zu suchen. Andrea schwebt zwischenzeitlich in Gefahr. Ein Freund versucht ihn zur Flucht zu bewegen; Chénier hat aber einen Brief einer Unbekannten bekommen und ist sicher, die langersehnte grosse Liebe gefunden zu haben. Die Unbekannte ist natürlich Maddalena, die Chénier um Hilfe bitten will. Beide erkennen ihre Liebe und schwören sich Treue bis in den Tod. Der Spitzel ruft Gérard herbei, der Maddalena beleidigt. Chénier zückt seinen Degen und verwundet ihn. Als Gérard Chénier erkennt, bittet er ihn, sich um Maddalena zu kümmern und zu fliehen, denn der öffentliche Ankläger habe bereits Chéniers Namen auf die Liste gesetzt. Die herbeigeeilte Menge erhält von Gérard keine Auskunft über den Angreifer und fordert den Tod der Girondisten.

Chénier wird gefangengenommen. Der Spitzel lässt dies öffentlich verkünden, denn er ist überzeugt, dass Maddalena dadurch auftauchen wird, und drängt Gérard, die Anklageschrift zu verfassen. Gérard ist hin- und hergerissen. In einer grossartigen Arie begreift er, dass er immer noch ein Sklave ist: früher des Adels, jetzt der Revolution, vor allem der Leidenschaft für Maddalena und des Hasses. Trotz seines Zwiespalts unterschreibt er die Anklageschrift. Als Maddalena ihn um Hilfe bittet, erklärt ihr Gérard seine Liebe und will sie besitzen. Zuerst versucht sie zu fliehen, bietet sich ihm jedoch als Preis für Chéniers Leben an. Sie beschämt ihn damit, doch es ist zu spät: Trotz Gérards Plädoyer zugunsten von Chénier wird dieser zum Tode verurteilt.

Maddalena besticht einen Gefängniswärter und nimmt die Stelle einer zum Tode verurteilten Mutter ein. Gemeinsam gehen Chénier und Maddalena in den Tod.

Eine Oper also voller Leidenschaft, Ideale, Spannung, verletzter Gefühle… Leider sprang jedoch der Funke gestern nicht wirklich über. Am Dirigat von Nello Santi und der Leistung des Orchesters kann es nicht gelegen haben, auch wenn die Lautstärke bisweilen am oberen Limit angesiedelt war. Der Altmeister vermochte jedoch die Schönheit des Werkes auszuloten und den Spannungsbogen aufzubauen.

Auch an der Leistung Lucio Gallos (Gérard) lag es nicht. Ganz im Gegenteil: sein „Nemico della Patria?“ geriet zum flammenden Vorwurf an sich selbst. Lucio Gallo verkörperte die Wandlung des Gérard perfekt. Er verfügt über eine darstellerische Intensität, die dieser Aufführung gut tut. Sein warmer Bariton besticht durch viele Schattierungen, er ist gut geführt und zu Differenzierungen fähig. Dies ist leider nicht der Fall bei Salvatore Licitra. Seine an sich schöne Stimme kommt vor allem in der Mittellage und im tiefen Register zur Geltung. Er ist ein „baritonaler“ Tenor - was ich persönlich sehr mag -, leidet aber bisweilen an Intonationsproblemen und hat in der Höhe doch schon etliche Schwächen. Die Spitzentöne kommen fortissimo und auch sonst sind eher die lauten Töne an der Tagesordnung. Zudem scheint er mir nicht einer der musikalischsten Tenöre zu sein – wie sonst ist es zu erklären, dass er bei seiner Arie „Un dì all’azzuro spazio…“ mit einer Atempause den Bogen bei „Udite! non conoscete amor“ stört? Ganz allgemein war bei ihm keine tiefergehende musikalische Gestaltung, keine wirkliche Leidenschaft, keine Sinnlichkeit zu erkennen - auch wenn er ansonsten die Partie „ordentlich“ sang. Von einem „Spitzentenor“ erwarte ich jedoch ganz einfach mehr. Darstellerisch wirkte er eher statisch.

Micaela Carosi als Maddelena verfügt über eine hochentwickelte Pianokultur, die sie auch immer wieder einsetzt. Sehr berührend und glaubwürdig vermag sie ihre Angst zu übermitteln, als sie bei der unwirtlichen Marat-Statue zum Stelldichein mit Chénier eintrifft. Ihr Timbre hat eine metallische Grundierung, die Höhen sitzen und sie verfügt über genügend Durchschlagskraft, um diese Partie zu bewältigen. Auch bei ihr sind jedoch einige Intonationstrübungen zu vermerken, in der Mittellage macht sich ein Vibrato bemerkbar und die Stimme klingt nicht mehr ganz frisch. Darstellerisch konnte sie mich nicht vollends überzeugen.

Bei den Nebenrollen sind Judith Schmid als Mulattin Berti, Martin Zysset als „Incroyable“ (Spitzel) im Rod-Stewart-Look, Gabriel Bermúdez (Roucher, Freund Chéniers) sowie Cornelia Kallisch (alte Madelon) und Valeriy Murga (Mathieu, ein Sansculotte) hervorzuheben.

Die mangelnde Leidenschaft mag jedoch auch der Inszenierung geschuldet sein. Grischa Asagaroff siedelt die Handlung (Ausstattung: Reinhard von der Thannen) in der Zeit der Revolution an. Das Einheits-Bühnenbild ist ein stilisiertes Pantheon. Der Adel trägt Perücken, tritt jedoch als undefinierbare Masse auf (gleiche Masken, gleiche Kostüme), was etwas seltsam wirkt, wenn die Gräfin zu einer Dame sagt „O! come elegante…“ oder „appariscente e fresca sempre… contessa, sempre, sempre la stessa“. „Interessanterweise“ tragen alle Filzpantoffeln, auch wenn sie Gavotte tanzen! Auch die Revolutionäre tragen Masken und sind eine Einheit. Nur die Protagonisten sind Individuen. Das Ganze ist ästhetisch, doch reichlich steril und kalt. Die Inszenierung bebildert und lässt es dabei bewenden. Meines Erachtens wurde der Schluss gänzlich vergeben. Die beiden Liebenden stehen (wieder einmal) weit voneinander entfernt und singen ihr Duett, bevor sie doch noch zusammenfinden und in einem sich öffnenden Viereck in den Bühnenuntergrund fahren. Keine Romantik, keine Emotionen werden da fühl- oder sichtbar.

Fazit: eine Neuproduktion, an der nichts wirklich stört, die aber auch weit davon entfernt ist, der Musik und der Handlung gerecht zu werden. Kurz: eine verpasste Chance!