Liebestod unter der Guillotine

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (02.10.2007)

Andrea Chénier, 30.09.2007, Zürich

Umberto Giordanos Revolutionsdrama «Andrea Chénier» im Opernhaus Zürich.

Gespielt wird im Zürcher Opernhaus schon seit einem ganzen Monat, aber so richtig begonnen hat die Saison 2007/08 erst jetzt, mit der Premiere von Umberto Giordanos «Andrea Chénier»: ein effektvolles, kompakt gebautes Stück voller Melos und Dramatik, drei grosse Hauptpartien und am Pult der temperamentvolle Altmeister Nello Santi – da ist für Stimmung und Applaus vom ersten Moment an gesorgt. Und für einmal liess der Spielplan sogar ein dramaturgisches Konzept vermuten: Unmittelbar vor der «Chénier»-Premiere hatte es einige Aufführungen von Puccinis «Tosca» gegeben, jenes Opernthrillers, der so eklatante Parallelen zu Giordanos vier Jahre älterem «dramma di ambiente storico» aufweist (die beiden Opern haben denn auch denselben Textdichter, Luigi Illica).

Dreieckskonstellation
Hier wie dort die Dreieckskonstellation einer Frau zwischen zwei Männern, einem leidenschaftlichen Künstler und einem lüsternen Machtmenschen, bei Giordano wie bei Puccini Revolution und Gewaltherrschaft als Ingredienzien einer Liebesgeschichte, die in den Tod führt. – Der direkte Vergleich fällt nicht zu Ungunsten Giordanos aus, mögen Puccinis Arien und Duette auch den weiteren Atem, das stärkere melodische Eigenleben haben. Nicht nur die Beziehung zwischen Liebesdrama und politischem Zeitgeschehen (der Französischen Revolution) ist in «Andrea Chénier» komplexer gezeichnet, auch die drei Hauptfiguren entwickeln sich stärker. Aus der tändelnden Aristokratin Maddalena di Coigny wird eine Verfolgte, die bei Chénier Schutz sucht und sich schliesslich für eine junge Mutter opfert, um mit dem Geliebten zusammen zu sterben. Der Diener Gérard, der als Revolutionsführer Karriere macht, aber Gefangener seiner Liebe zu Maddalena bleibt, verrät zwar den Rivalen Chénier ans Revolutionstribunal, versucht ihn dann aber zu retten. Lucio Gallo zeichnet diesen ambivalenten Charakter nicht nur darstellerisch, sondern auch stimmlich eindringlich, mit einem nicht sehr voluminösen, dank guter Fokussierung aber durchschlagskräftigen Bariton von grosser Amplitude. Der idealistische Dichter Chénier schliesslich, der sich beim Fest der Contessa di Coigny revolutionär gebärdet, geht mehr und mehr in seiner Leidenschaft für Maddalena auf.

Grischa Asagaroffs Inszenierung bleibt der Handlung und der Charakterisierung der Personen nichts an Präzision und Deutlichkeit schuldig, auch die zahlreichen und gewichtigen Nebenrollen erhalten individuelles Profil, insbesondere die liebenswerte Mulattin Bersi, der Judith Schmid ihre intensive Ausstrahlung leiht, aber auch Chéniers Freund Roucher (der markante Gabriel Bermúdez), der spionierende «Incroyable» (Martin Zysset, wie schon in der letzten Zürcher «Chénier»-Produktion von 1993/94), die herrische alte Gräfin (Margaret Chalker) und die greise Madelon, die ihren letzten Enkel der Revolutionsarmee zum Opfer bringt (mehr pathetisch denn anrührend: Cornelia Kallisch).

Während die Regie in den ersten drei Bildern manchmal überdeutlich wird – die roten Reifen, die am Schluss des ersten Bildes um die Hälse der dem Tod geweihten aristokratischen Festteilnehmer aufleuchten, die nachgestellte Begegnung des kleinen Gérard mit der kleinen Maddalena –, verflacht sie in der ganz auf Chénier und Maddalena konzentrierten Schlussszene. Hier liess sich nicht mehr überhören, dass Salvatore Licitra und Micaela Carosi ihren Partien zwar stimmtechnisch vollauf gewachsen sind, dass es ihnen beiden aber an klanglicher Wärme und farblichen Nuancen fehlt (von den beschränkten darstellerischen Mitteln gar nicht zu reden). Licitras Tenor beeindruckt vor allem durch sein breites baritonales Fundament – die Höhe gerät eher eng –, Carosis Sopran verfügt über eine grosse Reichweite und Spannkraft. Beiden hätte man einen stilvolleren Abgang gewünscht als die abrupte Liftfahrt in die Versenkung.

Monumentalität
Der Ausstatter Reinhard von der Thannen hat für alle vier Schauplätze einen Einheitsraum entworfen, eine an die Revolutionsarchitektur erinnernde Kuppelkonstruktion, die von Szene zu Szene modifiziert wird. Für den Wintergarten im Schloss mag sie stilistisch etwas deplaciert wirken, doch zu den folgenden Szenen passt ihre kalte Monumentalität. Grotesk morbid ist die Aristokratie kostümiert, patriotisch bunt das ordinäre Strassenvolk – der Chor des Opernhauses macht sängerisch so oder so gute Figur. Als Markenzeichen von der Thannens erweisen sich einmal mehr die hässlichen, strähnigen Perücken.

Was auf der Bühne die Kuppel, ist im Orchestergraben der Dirigent Nello Santi – das Element, welches das turbulente dramatische Geschehen zusammenhält. Doch Santi ist der raffiniertere Architekt, er erschafft Räume mit grosser rhythmischer Spannung und versteht sich auf eine subtile Lichtführung, das heisst: Die Schlagkraft, die zum Teil grellen Effekte der Partitur spielt er energisch aus, doch er behält stets die Kontrolle über das klangliche Geschehen im bestens disponierten Orchester wie auf der Bühne und beweist einmal mehr seinen untrüglichen Sinn für strömendes Melos und atmendes Musizieren.