Nieder mit den Filzpantöffelchen!

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (02.10.2007)

Andrea Chénier, 30.09.2007, Zürich

Kunstvoll die Musik, künstlich die Inszenierung: Umberto Giordanos Revolutions-Stück «Andrea Chénier» erntet viel Applaus am Zürcher Opernhaus.

Wenn der Adel in Filzüberschuhen tanzt, damit der Boden nicht zerkratzt wird, dann ist es Zeit für eine Revolution. Das leuchtet sehr ein im neuen Zürcher «Andrea Chénier»; Ausstatter Reinhard von der Thannen hat sich in dieser Festszene ausgelebt im Entwurf überdrehter Reifröcke, Regisseur Grischa Asagaroff hat den Protagonisten gezeigt, wie man tanzt, wenn einem die Noblesse jegliche Bodenhaftung verbietet, und Nello Santi hat seinen Dirigentenstab ebenfalls in Filz gesteckt. Sehr spitzfingrig und steif spielt das Orchester der Oper die Gavotte, der Klang ist mindestens so gepudert wie die Perücken der Tänzer.

Revolution also. Es ist die französische, die den Hintergrund liefert zu Giordanos Erfolgsstück von 1896, und der Librettist Luigi Illica spart nach der Romanvorlage von François-Joseph Méry nicht an historischem Personal. Robespierre wird ebenso genannt wie Marat, Fouquier-Tinville tritt als Ankläger des Revolutionstribunals sogar persönlich auf, und der Dichter André Chénier fand sein Ende tatsächlich unter der Guillotine. Nicht so Maddalena di Coigny, die in der Oper seine Geliebte ist: Das Vorbild für diese Figur, die bei Giordano den Gefängniswärter besticht, damit er sie in die Liste der zum Tod Verurteilten einträgt, hat in der Wirklichkeit ihr Geld dafür verwendet, um sich aus dieser Liste entfernen zu lassen. Sie lebte weiter in Freiheit, was wieder einmal zeigt, dass Oper und Realität nicht dasselbe sind.

Allerdings, und das ist die Schwierigkeit dieses «Andrea Chénier»: Behauptet wird die Realität durchaus, zumindest was die Gefühle anbelangt - darauf hatte es die Bewegung des Verismo, der Giordano verpflichtet war, ja gerade angelegt. Wenn es in dieser Oper um Liebe und Macht und ums Vaterland geht, ist es ernst gemeint. Für die Interpreten gilt es, den Wechsel von Giordanos umwerfender Gavotte-Karikatur zum echten Geist der Revolution zu schaffen.

Das Kostümfest geht weiter

In Zürich gelingt das nur in der Musik. Schon vor dem adligen Getanze, in den allerersten Takten der Oper, hatten sich Santi und die Musiker von null auf hundert in die klassenkämpferische Wut des Dieners Carlo Gérard gesteigert. Und auch nachher, wenn Giordano echte Revolutionsmusik zitiert, wenn erst die Liebe und dann die Verzweiflung explodiert, gibt es keine Reserven im Orchestergraben. Saftig der Klang, markant die Rhythmen, theatralisch der Grundton: Wie wirkungsvoll Giordanos Musik ist, wie geschickt sie den verschiedenen Akteuren passende Klangkulissen aufbaut, das zeigt Santi mit gewohnter Verve.

Auf der Bühne dagegen geht das Kostümfest weiter. Asagaroff und von der Thannen spielen mit Stilzitaten aus der Revolutionszeit, die sie mal ins Punkige, mal ins Tuntige wenden. Es gibt Trikolore-Kostüme für den prägnant gestaltenden Chor, viel Schminke und einen Revolutionär, der aussieht wie Che Guevara. Das hat seinen optischen Reiz, verlängert aber die Parodie in Regionen, in denen sie eigentlich nichts mehr zu suchen hat.

Die Sängerinnen und Sänger geraten damit ins Dilemma. Sind ihre Rollen nun ernst oder komisch? Die überzeugendsten Auftritte haben nicht zufällig jene Nebenfiguren, denen Giordano selbst eine Prise Parodie beigemischt hat. Martin Zysset kommt so zu einem starken Auftritt als Spitzel-Dandy-Punk, und Margaret Chalker zeigt als Gräfin einmal mehr ihr Talent für adlige Dekadenz. Dagegen leidet Cornelia Kallisch als Madelon erheblich darunter, dass man sie in einem Sperrholz-Wägelchen über die Bühne schiebt; die ergreifende Geschichte dieser Grossmutter, die ihren Enkel für Frankreich opfert, mag nicht recht dazu passen.

Eine grosse Liebende

Den Hauptfiguren erspart man solche Einfälle. Sie bewegen sich zwar in karnevaleskem Umfeld, aber sie tun es mit jenem Ernst, den ihr Schicksal verlangt. Am besten gelingt das Micaela Carosi: Sie gibt bei ihrem Zürcher Debüt eine Maddalena di Coigny, die in den guten Zeiten des Adels mit gezielten Nachlässigkeiten gegen die Korsett-Mode ansingen kann - und später als grosse Liebende zarte, hell strahlende, ergreifende Töne findet. Dem Dichter Andrea Chénier ist das weniger gegeben: Salvatore Licitra verfügt über einen vor allem lauten Tenor, der ihm kaum mehr Nuancen erlaubt als seine darstellerischen Künste. Auch der dritte im Bunde, der Bariton Lucio Gallo als Diener-Revolutionär Carlo Gérard, bleibt schauspielerisch etwas einseitig dem irr flackernden Blick verpflichtet; aber vokal zeigt er eine vielschichtige Wandlung vom Bösewicht zum verzichtenden Verehrer.

Zuletzt bleiben die Liebenden allein im historisch inspirierten, in der Wirkung aber eher futuristischen Kuppelbau zurück, den von der Thannen als Einheitsbühnenbild gebaut hat. Weg sind die Trikoloren, auch das niedliche Guillotine-Modell ist verschwunden. Das Ende kommt - in der zweitbesten Szene dieser Inszenierung - ohne Revolutionskitsch aus.