Zerrissene Liebschaften in den Zeiten der Revolution

Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (02.10.2007)

Andrea Chénier, 30.09.2007, Zürich

Wer Umberto Giordanos Revolutions-Oper «Andrea Chénier» auf den Spielplan setzt, ist verloren ohne drei Protagonisten von grossem Verismo-Format. Das Opernhaus Zürich hatte sie in der Premiere vom Sonntag.

Die Inszenierung am Sonntag im Zürcher Opernhaus ist ein Sängerfest und ein Abend gewesen, der ganz der Musik gehörte. Dies war umso erstaunlicher, als zwei aus dem Hauptrollen-Trio der Zürcher Aufführung der Oper «Andrea Chénier» des Italieners Umberto Giordano (1867-1948) ihre Partie zum ersten Mal sangen: Lucio Gallo, einer der grossen italienischen Baritone, zu Gast an den besten Bühnen der Welt, debütierte als Gérard und feierte einen umjubelten Erfolg. Zu Recht, sein satter Bariton und die grosse Ausdrucksfähigkeit, mit der er Klangfarbe, Sprache und Emotion unter einen Hut zu bringen verstand, gaben der Figur des zerrissenen Idealisten und Liebenden grosses Profil.

Nicht minder hinreissend sang am Sonntag die Italienerin Micaela Carosi, die nicht nur als Maddalena ihr Rollendebüt gab, sondern auch zum ersten Mal in Zürich sang. Wir hoffen, es sei nicht das letzte Mal gewesen. Ihr Markenzeichen ist die kontrastreiche Dynamik, aus der sie Spannung schöpft und die musikalischen Linien äusserst lebendig gestaltet: Immer wieder ging sie, auch auf kleinem Raum, zurück ins Pianissimo, um Sekunden später in einem kraftvollen Crescendo wieder zurück zu dramatischer Stärke zu kommen. Beeindruckend, auch wenn das Timbre nicht in jeder Lage über Fülle und wirklich runde Klangfarben verfügt.

Stimmliche Ausdrucksnuancen

Schon vertraut mit der Titelrolle war Salvatore Licitra: Bravourös sang er seine Auftrittsarie, eine grosse Szene mit vielen Ausdrucksnuancen, die er sensibel und virtuos auszukosten verstand. Später hätte man sich hin und wieder, bei allem lyrischen Schmelz dieser beneidenswert schönen Stimme, noch etwas mehr dramatischen Gestus von ihm gewünscht. Denn Nello Santi, Dirigent und quasi der vierte im Bunde dieses Sängerfests, liess seinen Sängern zwar viele Freiheiten, nicht jedoch diejenige der Dynamik. Ohne Rücksicht auf Verluste peitschte er die dramatisch zugespitzten Orchesterwogen und schroffen Akzente durch, in teils rasanten Tempi und ganz auf Kontrast getrimmter Artikulation wie es seinem seit Jahren gepflegten und reifen Stil halt eben entspricht. Für ein Stück wie Giordanos Meisterwerk passt das ausgezeichnet, umso mehr als er die lyrischen Momente als Gegengewicht nicht auswalzte, aber in ihrer ganzen Wärme und Intensität aus dem Orchester zauberte und die Opernhaus-Cellisten wunderschön zu Schwelgen verstanden.

Den Rest der grossen, und trotz der oft nur kurzen Rollen anspruchsvollen Besetzung, konnte das Opernhaus aus dem Ensemble besetzen. Vor allem Cornelia Kallisch als Madelon und Martyn Zysset als Incredibile wussten zu überzeugen.

Verstaubte Leidenschaft

So grandios die Musik, so langweilig war jedoch die Szene: Grischa Asagaroff staffierte die adelige Gesellschaft als Chiffre ihrer Dekadenz mit Puder, Perücken und vor allem Hüttenfinken aus, was noch der lustigste Einfall in einer Inszenierung war, die sich praktisch ausschliesslich auf Posen und Positionen reduzieren lässt. Wo er nicht mehr ironisieren konnte, blieb Asagaroff hilflos: Chor und Statisten standen in Tricolore-Kostümen herum, Reinhard von der Thannens Metallkuppel, ein von der Revolutionsarchitektur inspiriertes Einheitsbühnenbild, stand den Auf- und Abmärschen wenigstens nicht im Weg.

Die Leidenschaft im Dreieck der Protagonisten erschöpfte sich in verstaubten Opernposen, der Liebestod am Ende wurde unter die Szene versenkt. Die Schrecken der Revolution verniedlichte eine Mini-Guillotine, die eine Spielzeugpuppe köpfte. Und hinter allem leuchtete die Erdkugel. Etwas verloren sah sie aus, illuminiert ihr Schein doch nur gerade Chéniers Auftrittsarie: «Parea la terra un immane tesor ...». Sind wir hier etwa inmitten der Klimadebatte gelandet?