Schwarz-Weiss, das inszenierte Elend

Herbert Büttiker, Der Landbote (02.10.2007)

Andrea Chénier, 30.09.2007, Zürich

Die erste Premiere der Saison im Haus bringt einen Dauerbrenner der italienischen Oper in den Zürcher Spielplan zurück: Umberto Giordanos «Andrea Chénier»: Dirigent Nello Santi und das Inszenierungsteam lassen es grell aufleuchten.

In der Direktionszeit Pereira waren auch Giordano-Raritäten wie «La cena delle beffe» oder «Madame Sans-Gêne» zu sehen. Als Repertoirewerke des 1856 geborenen Süditalieners im Umkreis von Masgagni und Puccini halten sich auf den Spielplänen aber nur «Fedora» (1898) und vor allem «Andrea Chénier» (1896), der dramatisch wirkungsvolle «Tosca-Vorläufer» und Trumpf der grossen Tenöre. Giordanos Meisterwerk präsentiert Pereira nun nach vierzehn Jahren zum zweiten Mal, wobei wohl nicht die Titelpartie das Hauptargument für die Neuinszenierung war, sondern Nello Santi und ein italienisches Team, das hier in die erste Chénier-Liga vorzustossen versucht.

Mit dem Tenor Salvatore Licitra als Chénier, dem Bariton Lucio Gallo als Rivale Gérard und dem Sopran Micaela Carosi als Maddalena standen an der Premiere Protagonisten mit starkem Profil auf der Bühne, die beiden Letztgenannten in Rollendebüts. In der hochgepeitschten Verismo-Dramatik des Stücks (und Nello Santis antreibendem, dann auch wieder breitem Dirigat) gab es aber zumal für den Tenor im lyrischen Glanz der kraftvoll grundierten Stimme auch Momente der Gefährdung. Die Sopranistin konnte mit den Ressourcen einer grossen Stimme verschwenderischer auffahren, liess aber den Ausgleich zwischen vibratoreichem Fortissimo und eher fahlem Piano ein wenig vermissen, und vielleicht gelangt sie mit der expressiven Fülle ihres Gesangs auch zu sehr in ein Diva-Pathos, das mehr zu einer Tosca als zur Maddalena zu passen scheint. Dass sie sich im Widerspruch zum Text extravagant rothaarig präsentiert, macht die Sache nicht weniger problematisch.

Etwas monochrom, aber am überzeugendsten verbanden sich Bühnenpräsenz und souveräne sängerische Aktion beim Bariton zur inneren Dramatik einer Figur im Widerstreit der erotischen und moralischen Antriebe. Dass sie auf spannende Weise das Schema des Bariton-Bösewichts durchbricht, dürfte Gallo ohne Premierendruck und mit wachsender gestalterischer Freiheit im dritten Akt noch kontrastreicher und nuancierter entwickeln können.

Der Sänger-Poet

Im Gegensatz zur Titelfigur und vielen Nebenfiguren der Oper gibt es für die Baritongestalt keine reale Entsprechung. Aber zur reinen Operngestalt wird auch die historische Figur des französischen Dichters André Chénier, der sich für die Revolution engagierte, aber ihre Radikalisierung missbilligte und 32-jährig unter der Guillotine starb. Er wird bei Giordano der Sänger-Poet der grossen Gefühle in weit gespannten und deklamatorisch kraftvollen Kantilenen, der umarmenden Emphase, die der Natur, den unterdrückten Menschen, dem Vaterland und natürlich der Liebe gilt.

All dies vermittelt Licitra eindrücklich, auch wenn er die grossen Vorbilder nicht erreicht: «Un di nel azzurro spazio» ist grosse tenorale Bekenntnismusik und ein «Schlager», obwohl die Arie nicht auf schematische Melodik baut, das Pamphlet gegen die Dekadenz des Ancien Régime, mit dem Chénier zu Beginn als politischer Akteur antritt. Am Ende steht dann als elegischer Kontrast «Come un bel dì di maggio»: der Abschied des Dichters, der ein Opfer der Revolution geworden ist. Diese frisst bekanntlich ihre eigenen Kinder – natürlich fehlt das berühmte Wort in Luici Illicas um Faktentreue und Zeitkolorit bemühtem Libretto nicht.

Ganz der Legendenbildung auf der Bühne gehört aber die Liebe des Dichters zu Maddalena, die sich ins Gefängnis einschleicht, um mit Chénier gemeinsam zu sterben: Das führt mit dem «Viva la morte insiem» hinauf zum hohen H und zu einem Opernschluss, der entweder die verzweifelte Krönung von Chéniers Liebesphilosophie ist oder einer jener unverschämten Effekte, für die die Opern der Zeit um 1900 berühmt respektive berüchtigt sind.

Nur die zweite Variante zeigt leider die Inszenierung von Grischa Asagaroff und Reinhard von der Tannen. Das Paar fährt, sich küssend, in die Versenkung, und während Santi das Orchester über zwölf Takte hinweg zum Schlussakkord stemmt, steigern die Neonröhren in der Kuppel ihre Leuchtkraft zum Maximum: eine Preisgabe des Opernschlusses an einen allen Realismus von Gefängnis und Hinrichtung überblendenden Effekt, die erstaunlich unsensibel wirkt. Aber ganz überraschend kommt sie nicht.

Als «Dramma di ambiente storico» bezeichnet Giordano die Oper. Die Inszenierung lässt sich in der Interaktion und Charakterisierung der Einzelfiguren detailreich und sorgfältig auf die Erzählung ein, aber das Tableau unter der eher kleinräumig wirkenden Kuppel wird plakativ «ausgestattet»: Das aristokratische Weiss ist reine Karikatur, und das Elend, das der aufrührerische Gérard der Festgesellschaft vor Augen führt, ist eine barocke Inszenierung mit Totengerippe: Als ob das Elend gespielt werden müsste.

Kostümiert in den Farben der Trikolore, rücken auch die Volksszenen in die Nähe der Maskerade. Da wird zu viel Oper gemacht, und nicht allen gelingt es gleich gut, sich daraus zu befreien. Aber Judith Schmid als Bersi, Cornelia Kallisch als Madelon, Martin Zysset als Incroyable, Gabriel Bermúdez als Rocher, Morgan Moody als Fouquier-Tinville und etliche mehr hauchen dem Zeitbild jenseits des ästhetischen Bemühens zwischen Schwarz und Weiss das Leben ein, das die Oper auch musikalisch evoziert, mit Zitaten historischer Musik zwischen Menuett und Marseillaise und in einer überhaupt überraschend dichten und reichen Partitur.