Per Bühnenlift in die Versenkung

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (02.10.2007)

Andrea Chénier, 30.09.2007, Zürich

Ein politisches Stück sollte es sein, mehr noch, ein Lehrstück. Regisseur Grischa Asagaroff macht daraus ein betriebsames Erzähltheater, das modern sein will, aber auf halbem Weg stehenbleibt.

Seit der Renaissance des Belcantos in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben die dem Verismo zugerechneten Opern zunehmend einen schweren Stand auf der Bühne. Lieber lässt sich ein Publikum von kunstfertigen Koloraturkaskaden einer herzbewegenden Primadonna ins vermeintliche Goldene Zeitalter des Gesangs zurückversetzen, als es sich dazu anhalten lässt, für wahr zu nehmen, was auf der Bühne geschieht. Nichts weniger nämlich wollten die Veristen, zumindest in ästhetischer Hinsicht: Zwischen dem auf der Bühne Dargestellten und den künstlerischen Mitteln der Darstellung sollte jede Diskrepanz eliminiert werden; das Eine sollte im Andern aufgehen. Ziel dieses künstlerischen Programms war es, der Bühnenkunst einen möglichst grossen Anteil an lebensechter Wahrheit und Anschaulichkeit zu sichern, im Idealfall das Leben gleichsam pur auf die Bühne zu bringen.

Dass gerade dadurch die Kunst selber in Gefahr geraten könnte, dass sie nämlich mit dem Leben verwechselt wird, steht auf einem andern Blatt. Denn die Bühne besteht zwar aus jenen Brettern, die die Welt bedeuten. Aber sie ist nicht selber diese Welt. Genau unter diesem Zwiespalt leidet die neue Inszenierung von Grischa Asagaroff. Einerseits bietet sie einleuchtende Ansätze zu unaufgeregtem episch-historischem Erzähltheater, versucht immer wieder, die dialektischen Bezüge zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen utopischem Idealismus und politischem Pragmatismus auf der Bühne ins Bild zu bringen. Anderseits scheint Asagaroff der unmittelbaren Suggestivkraft solcher Bilder - wenn sich diese denn überhaupt einstellt, etwa in der entscheidenden Auseinandersetzung zwischen Maddalena und Gérard im dritten Bild - nicht wirklich zu vertrauen und lässt das, was in dieser Konfrontation thematisiert wird, gleichzeitig von «Kindern» stumm nachspielen. Das mag symbolisch gedacht sein, wirkt aber putzig. Dasselbe bei den vielen Statisten, die im Hintergrund des eigentlichen Geschehens gleichsam für reales Leben sorgen sollen, sich an Stehtischen Wein einschenken und vor allem so tun, als ob - eine reine Betriebsamkeit, welche die Suggestivkraft des Bühnengeschehens (und der Musik) immer wieder lähmt. Zudem bewegen sich diese Statisten zum Teil derart salopp, ohne die nötige Innenspannung und ohne choreografischen Ernst, dass man sich an eine Musikkomödie erinnert fühlen könnte.

Filzpantoffeln

Reinhard von Tannen, für die gesamte Ausstattung zuständig, hat einen Einheitsraum geschaffen, bühnenfüllend im Halbrund, gegen hinten durch Türen begrenzt und mit Fenstern erhellt, überwölbt von einer grossen Kuppel, aus der arg blendendes Neonlicht herabstrahlt. Architektonische Jetztzeit sozusagen, und in ihr wird das historische Geschehen rund um die Französische Revolution gleichsam «gespiegelt». Doch das Historische dieser Inszenierung ist, jedenfalls im ersten Bild, nur Zitat, allerdings ins Absurde (oder Verstaubte) gesteigert - mit aufwendigen Kostümen und Perücken, mit einer weiss gewandeten und totenbleich geschminkten Adelsgesellschaft, die selbst in ihren eigenen Festsälen parkettschonend in Filzpantoffeln umherschlurft.

Der plötzliche Auftritt einiger vor Hunger ausgemergelter Bauern mitten in diese sich selbst feiernde Adelsgesellschaft hinein, er sollte zum Tumult führen und bleibt doch nichts mehr als ein «Auftritt». Und zum Schluss der Oper, nachdem Maddalena heroisch beschlossen hat, gemeinsam mit ihrem zum Tode verurteilten Chénier zu sterben, werden die beiden - im dreifachen Forte ekstatisch bis ins hohe H hinauf singend - per Bühnenlift in die Versenkung hinuntergefahren. Das tut allein schon optisch weh.

In Abrahams Schoss

Gesungen wurde gut. Salvatore Licitra überzeugte in der Titelpartie vor allem durch edles Timbre und - als Dichter - durch einen sprachbewussten Gesang, sang wohltuend auf Linie und gestaltet mit unaffektierter Noblesse. Er ist ein Poet auch in seiner Ausstrahlung und ohne jenes vokale Machogehabe, welches sich gerade in dieser Partie eingebürgert hat. Micaela Carosi debütierte als Maddalena, beeindruckte vor allem in der Höhe durch einen expansiven Sopran und insgesamt durch eine schauspielerisch differenzierte Gestaltung. Mit der Sprache allerdings steht sie auf Kriegsfuss, da versteht man einen ganzen Abend lang kaum ein Wort. Lucio Gallo, auch er ein Rollendebütant, überzeugte als Gérard allein schon durch seine Erscheinung und schauspielerische Präsenz. Im ersten Bild noch etwas zurückhaltend, steigerte er sich vor allem im dritten Bild zu packender Eindringlichkeit, mit satt klingendem, relativ schlank geführtem Bariton, der auf die in dieser Partie oft zur Schau gestellte vokale Kraftmeierei mit guten Gründen ganz verzichten kann. Judith Schmid war mit ihrem vollmundig glühenden Mezzosopran eine echte Mulattin; Cornelia Kallisch gestaltete ihren einzigen Auftritt als Madelon zu einer packenden Charakterstudie. Gabriel Bermúdez gefiel als wendig vitaler Roucher, Martin Zysset als omnipräsenter Incroyable; und einzig Margaret Chalker als Contessa di Coigny fehlte es an dezidierter aristokratischer Autorität.

Am Pult des Orchesters der Oper Zürich stand Nello Santi, eine Ikone hierzulande und gleichzeitig Garant für gepflegte Tradition. Das heisst, dass er auch dem lyrischen Insichgekehrtsein dieser Musik wohltuend Aufmerksamkeit schenkte, statt dem «Verismo-Knüller» einfach zu geben, was andere ihm geben. Schön, wie er die subtil kalkulierten Farbwerte in der Partitur fein abgestuft zur Geltung brachte, wie er den vielen verhaltenen Parlando-Stellen spürbare Spannung sicherte, um handkehrum die rauschhaften Aufschwüngen dieser beredten Musik zu mächtiger Wirkung zu steigern. Dank seines sicheren Blicks für die musikdramatische Grossarchitektur des Werks konnten sich die Sängerinnen und Sänger alle wie in Abrahams Schoss fühlen. Musikalisch eine recht bemerkenswerte Aufführung, szenisch enttäuschend.