Düsteres „Märchen“

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (22.10.2007)

Königskinder, 21.10.2007, Zürich

Engelbert Humperdinck teilt dasselbe Schicksal wie Pietro Mascagni und Ruggero Leoncavallo: Keiner der drei Komponisten konnte mit den späteren Opern an die Sensationserfolge ihres Erstlingswerks anknüpfen. Mit Engelbert Humperdinck verbindet man nur „Hänsel und Gretel“. Dabei lohnt sich die Entdeckung seiner „Königskinder“.

Auch bei den „Königskindern“ handelt es sich um ein Märchen. Im Gegensatz zu „Hänsel und Gretel“ ist dieses jedoch von der Librettistin Elsa Bernstein Porges (unter dem Pseudonym Ernst Romer) vollständig erfunden und niemandem vertraut.

Im Wald lebt eine Gänsemagd quasi als weiblicher Kaspar Hauser. Sie dient einer Hexe und lernt von ihr Zauberkünste. Sie möchte gerne einmal Menschen kennenlernen, doch die Hexe verwehrt ihr dies. Der Königssohn trifft sie dort, und sie verlieben sich. Sie kann eines Fluchs wegen jedoch nicht mit ihm gehen; er ist wütend und verlässt sie.

In der Stadt ist der König gestorben. Ein Besenbinder, ein Holzhacker und ein Spielmann kommen zu der Hexe, um von ihr zu erfahren, wer der neue König sein wird. Sie erklärt ihnen höhnisch, dass derjenige König sein wird, der am nächsten Tag mit dem Glockenschlag zu Mittag durch das Tor der Stadt einziehen wird. Der Spielmann enthüllt der Gänsemagd, dass sie in Wahrheit eine Königstochter ist. Indem sie in einem Gebet ihre toten Eltern um Beistand anfleht, kann sie sich vom Zauber der Hexe befreien.

Am nächsten Tag erwarten die Menschen in der Stadt voller Aufregung den neuen König. Der Prinz hat sich in der Zwischenzeit bei einem Wirt als Schweinehirt verdingt und will ein Jahr in Demut dienen, um eines Königsthrons würdig zu sein. Als die Glocken zwölf schlagen, öffnet sich das Stadttor, und herein kommt die Prinzessin in den Kleidern der Gänsemagd mit einer Krone auf dem Kopf, begleitet vom Spielmann. So finden sich die beiden Liebenden wieder. Die Bewohner der Stadt fühlen sich betrogen: Sie wollen keine Gänsemagd und einen als Schweinehirten dienenden Königssohn als Könige und jagen das Paar aus der Stadt hinaus. Lediglich die Kinder haben erkannt, dass tatsächlich der König und seine Frau gekommen waren.

Im dritten Akt leben der Besenbinder und der Holzhacker im Wald in der Hütte der Hexe, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Der Spielmann, der misshandelt wurde, wird von den Kindern gebeten, die Königskinder zu suchen. Dieser willigt schliesslich ein.

Inzwischen kommen die Königskinder halb verhungert zur Hütte der Hexe und bitten um Brot. Das Brot, das sie erst bekommen, als der Königssohn die Krone als Zahlungsmittel gibt, ist jedoch durch einen Zauber der Hexe vergiftet - und als die Kinder und der Spielmann zurückkommen, finden sie das Königspaar im Schnee erfroren vor.

Wahrlich ein „böses“ Stück, das als Märchen für Kinder nicht unbedingt taugt. Sicherlich war es auch die Intention der Librettistin, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und ihnen auf spielerische Weise zu zeigen, dass in dieser Welt vielfach nur der weiterkommt, der laut, protzig und mit Tand behängt Augen und Ohren betört. Die wirklich guten Menschen erkennt man oft viel zu spät, genauso wie man zu spät bemerkt, dass man jemandem auf den Leim gekrochen ist.

In dieser Hinsicht war die Regie von Jens-Daniel Herzog sehr klar und dezidiert und passt im zweiten Akt bestens zu den gerade zu Ende gegangenen Wahlen. In einem Einheitsbühnenbild von Mathis Neidhardt siedelte er die Handlung des Aktes in einer - gemäss Programmheft - Zöglingsanstalt an (mir erschien das eher wie eine Turnhalle). Die Hexe muss ein Anti-Aging-Elixier erfunden haben, denn sie sah kaum aus wie eine Grossmutter, eher wie eine Biologieprofessorin in ihrem weissen Kittel und mit den vielen Pflanzen. Ein eher nüchternes, reelles Bühnenbild, das für mich - vor allem im Zusammenhang mit dem Text - etliche Schwachstellen aufwies. Ich hätte mir da etwas Diffuses, Verwunschenes, Irreales gewünscht, aber das ist nur meine persönliche Meinung.

Die Personenführung war, wie immer bei Herzog, vorzüglich. Die Idee, den Schweinehirten als „Hirten für die menschlichen Schweine“ (die ihren Fastfood-Müll auf dem roten Teppich entsorgten, den der Schweinehirt versuchte sauber zu halten) zu zeigen, fand ich genial. Aber ansonsten erschloss sich mir das Ganze nicht wirklich.

Dies war aber nicht weiter problematisch, denn das Musikalische sprach für sich. Obwohl sich Humperdinck stark von Wagner’schen Einflüssen freimachen wollte, gelang ihm das nicht wirklich; viele Passagen erinnern an den Stil des Bayreuther Meisters. Durch die Verbindung mit volksliedhaften Melodien jedoch entwickelt Humperdinck einen ganz eigenen Stil. Das bei Wagner oft Pathetische, Dramatische, Massige verwandelt sich in etwas Kindlich-Heiteres, Anmutiges, Tänzerisches. Die Musik nimmt den Zuhörer mit in ein Traumland, unterstreicht den Text perfekt, berührt und hinterlässt Gänsehautgefühle.

Dem Orchester der Oper Zürich gelang es unter der erstmaligen Führung von Ingo Metzmacher einen sowohl samtigen wie auch durchsichtigen, berührenden, farbigen Klang zu entwickeln. Nie zu laut, mit oftmals kaum mehr hörbaren Piani, unterstützte es die Sänger bestens. Eine wirklich reife Leistung!

Isabel Rey war eine berührende, bezaubernde Gänsemagd, der man das junge Alter durchaus abnahm. A priori ist ihre Stimme nicht unbedingt für dieses Stimmfach geeignet. Es ist aber immer wieder beeindruckend, wie sie mit ihren Mitteln ihre Rollen szenisch und stimmlich gestalten kann. Immer wieder betörend sind ihre Piani. Als kleiner Wermutstropfen sei bemerkt, dass die Stimme, sobald Druck darauf ausgeübt wird, leicht ins Schrille neigt.

Ein absoluter Glücksfall war die Besetzung des Königssohns mit Jonas Kaufmann. Viril, samtig, farbenprächtig, mit baritonalem Fundament ausgestattet ist seine Stimme und er verfügt über eine hervorragende Diktion. Dieser hochmusikalische Interpret vermag vom leisesten Piano bis zum Fortissimo alles zu bieten; und auch ein „messa di voce“ ist für ihn kein Fremdwort. Zudem sieht er auch noch blendend aus und ist ein richtiges Bühnentier - ein Künstler, der immer wieder zu begeistern vermag!

Der Spielmann wurde von Oliver Widmer verkörpert. Sein Bariton ist immer etwas gewöhnungsbedürftig. Etwas spröde und auch mit etwas wenig Substanz und Volumen ausgestattet, kann er jedoch durch sein Auftreten und seine Schauspielkunst das Publikum immer wieder begeistern, was auch gestern wieder der Fall war.

Von den kleineren Rollen seien die Hexe von Liliana Nikiteanu, der eher nach Buchhalter aussehende Besenbinder von Volker Vogel sowie der Holzhacker von Reinhard Mayr lobend erwähnt. Ganz speziell beeindruckend war die Leistung von Marie-Thérèse Albert aus dem Jugendchor. Und last but not least bot auch der Opernchor, verstärkt durch Jugendchor und Kinderchor, eine eindrückliche Leistung.

Fazit: Auch wenn sich für mich die Inszenierung nicht erschloss, war es ein durchaus lohnender Abend (dem bestimmt der Besuch einer weiteren Vorstellung folgen wird), den man jedem empfehlen kann. Schade, dass im Premieren-Publikum klaffende Lücken auffielen („Was der Bauer nicht kennt…“???). Die Anwesenden reagierten jedoch mit einhelliger Begeisterung.