Wenn Küsse Bisse werden

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (05.11.2007)

Penthesilea, 03.11.2007, Basel

Hans Neuenfels inszeniert «Penthesilea» von Othmar Schoeck im Theater Basel

Am Ende, beim Hinausgehen, dominiert der Eindruck, einem ganz anderen Stück begegnet zu sein. Was Interpretation, wird sie als Aufgabe ernst genommen, doch vermag. «Penthesilea» von Othmar Schoeck gehört zwar nicht gerade zu den Stützen des Repertoires, aber ganz unbekannt ist der Einakter von 1927 nicht. Und immer wieder kam das Stück zu einem eigenartig gepanzerten, unangenehm lauten Klang, der die wohlgeformten Sätze Heinrich von Kleists über weite Strecken unverständlich bleiben liess und den Zuhörer in die Erschöpfung trieb. Das ist in dieser erstklassigen Aufführung durch das Theater Basel – das damit nicht nur an den fünfzigsten Todestag des Komponisten erinnert, sondern auch beispielhaft das Repertoire des 20. Jahrhunderts pflegt – ganz und wohltuend anders.

Regietheater
Anders ist es, weil hier deutend in den musikalischen Text eingegriffen wurde. Die Verächter des Regietheaters halten den szenischen Leitern ja gerne vor, dass sie sich mit ihren Modifikationen an den Texten, zum Beispiel mit dem Ignorieren der Szenenanweisungen, etwas herausnähmen, das sich die musikalisch Verantwortlichen in ihrem künstlerischen Ethos nie erlaubten. Genau das ist hier geschehen. Zusammen mit dem Dramaturgen Hartmut Becker hat der Dirigent Mario Venzago eine eigene Fassung der Partitur erstellt; 1999 hat er sie bei einer halbszenischen Produktion von «Penthesilea» an den Internationalen Musikfestwochen Luzern erprobt, jetzt hat er sie erneut verwendet. Da mag man gleich an Mahler denken, der Partituren von Schumann «verbessert» hat, oder an Hermann Scherchen, der sich zum Teil wie ein Berserker über die von ihm dirigierten Notentexte gemacht hat. Im Fall von «Penthesilea» und Venzago darf man feststellen, dass es nur zum Vorteil des Werks ist.

Die Sprechtexte, die «Penthesilea» enthält und die den Sängerinnen und Sängern überantwortet sind, was angesichts der Komplexität von Kleists Sprache selten zu guten Ergebnissen geführt hat – diese Sprechtexte sind hier einer Schauspielerin übergeben, der Obersten der Amazonen (Oda Pretzschner), die bei Kleist vorkommt, von Schoeck aber gestrichen wurde. Klar strukturiert wurden auch die langen melodramatischen Passagen. Und vor allem hat Venzago den Notentext modifiziert, zum Beispiel die Dynamik so verändert, dass sich die Singstimmen gegenüber dem Instrumentalen zu behaupten vermögen und dass zugleich die ganz eigene Farbigkeit des mit nur wenigen Geigen, aber vielen tiefen Streichern, mit zehn Klarinetten, reichem Blech und zwei Klavieren besetzten Orchesters besser heraustritt. Jetzt klingt es ganz anders: modern in einem guten Sinn und attraktiv, licht und vielfarbig, auch näher am Text. Nicht zuletzt ist das dem Sinfonieorchester Basel zu verdanken, das an diesem Abend zusammen mit seinem ehemaligen Chefdirigenten sehr erfolgreich agiert.

Was in Basel ebenso fehlt wie der «bronzene Klang», der in den späten zwanziger Jahren so Aufsehen erregt hat, ist das Schlachtengetümmel vor Troja. Natürlich gibt es Amazonen mit ihren Pfeilbogen; sie entstammen dem wie stets von Henryk Polus vorbereiteten Chor. Es wird auch ein wenig gerannt, es gibt auch ein wenig Blut – aber eben nur ein wenig: Diskret deutet der Regisseur Hans Neuenfels die Herkunft der Geschichte aus dem Sagenstoff des Trojanischen Kriegs an. Mit ebenso feinem Strich wird der biografische Hintergrund zur Oper angedeutet; auf die ruinöse Beziehung zwischen Othmar Schoeck und Mary de Senger, welche die Genfer Pianistin 1923 zum erheblichen Leidwesen des Komponisten beendete, verweist einzig ein hochglänzendes Klavier, über das Achilles zu der auf einem hochweissen Gipspferd sitzenden Amazone hinaufsteigt. Und vielleicht die gepackten, nun allerdings bluttriefenden Koffer, über denen Penthesilea am Ende ihre Seele aushaucht.

Auf einen einfachen Nenner lässt sich Kleists Trauerspiel ohnehin ebenso wenig bringen wie Schoecks Oper. Neuenfels deutet das an durch eine Vielzahl szenischer Zeichen, die im Publikum Gedankenarbeit in Gang zu bringen suchen. Der Bühnenbildner Gisbert Jäkel hat einen zweistöckigen Einheitsraum gebaut, in dem griechische Säulen und ein Stück glänzenden Marmorbodens auf Klassizismus und Bildungsbürgertum, mithin auf die Entstehungszeit der Oper verweisen. Ähnlich streng die Kostüme von Elina Schnizler, die mit dem Gegensatz von Schwarz und Weiss sowie roten Akzenten arbeitet – dem Rot der Rosen, die des Helden Haupt kränzen, wie des Bluts, das er am Ende lassen muss. Dass sich Bisse auf Küsse reimen und umgekehrt Küsse rasch Bisse werden können, das ist Kleist zu entnehmen. Und dass die Klassiker Klassiker sind, weil sie eine eigene Art Wildheit in sich tragen, dem Programmheft – die hochästhetische, auch theaterwirksame Inszenierung sagt dazu wenig.

Menschentheater
Mit anhaltender Spannung verfolgt man dagegen, wie sich das grässliche, den Mythos umdeutende Drama Kleists in der Musikalisierung Schoecks entwickelt. Das liegt daran, dass Neuenfels in der kühlen optischen Anlage der Inszenierung die Figuren ganz ausserordentlich belebt. Die junge Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner zeigt eine liebreizende Penthesilea; ihre Stimme ist eher weich, ihr Körperausdruck in hohem Masse weiblich, doch lässt sie ebenso überzeugend das Schizophrene wie das Manische ihrer Figur aufscheinen. Bestens passt zu ihr Thomas Johannes Mayer mit seinem geschmeidigen, keineswegs dröhnenden Bariton; er ist ganz Liebender – auch das ein Verweis auf den biografischen Kontext. In weiteren Aufgaben bewähren sich Ursula Füri-Bernhard (Prothoe), Svetlana Ignatovich (Meroe), Rita Ahonen (Oberpriesterin) und Peter Bernhard (Diomedes). Eineinhalb grossartige Stunden lang kann man vergessen, dass das Theater Basel ein Stadttheater ist, dem das Leben nicht gerade leichtgemacht wird.