Berührende Traumwahrheiten

Hanspeter Renggli, Der Bund (03.12.2007)

Cendrillon, 01.12.2007, Bern

Jules Massenets zauberhafte Märchenoper «Cendrillon» am Stadttheater Bern.

Die Inszenierung von Johannes Erath versprüht Witz und gestaltet Traumbilder als rätselhafte Visionen, während Massenets Musik und die Sänger des Ensembles das Publikum verzaubern.

Was im deutschsprachigen Europa Engelbert Humperdincks «Hänsel und Gretel» war, dieselbe Rolle spielt die Aschenbrödel-Oper von Jules Massenet bis heute in Frankreich: «Cendrillon», 1899 in der Opéra-Comique uraufgeführt, gilt als das Weihnachtsmärchen schlechthin. Da ist der populäre Märchenstoff, der nicht allein den Zauber des Märchens und so manche Glücksutopien, sondern auch reale Familienkonflikte heraufbeschwört. Und da ist eine überaus vielseitige Musik, die ekstatisch-verführerische, karikierend-witzige und sinnlich-schwebende Klänge mischt. Massenets «Cendrillon» unterscheidet sich von anderen Aschenbrödel-Vertonungen durch das Nebeneinander von Alltagswirklichkeit und Traum. Das Berner Premierenpublikum reagierte begeistert, begeistert von einer Inszenierung mit Witz und Beziehungsreichtum, von einer ansprechenden Sängerleistung und, ganz besonders, von einer betörenden Musik, die im Berner Symphonie-Orchester unter der Leitung von Daniel Klajner aufblühte und verzauberte, trotz einiger Mängel in Präzision und Intonation.

Psychologische Feinarbeit

Die Berner Inszenierung macht deutlich, dass ein aussagekräftiger Bühnenraum, eine differenzierte Personenregie sowie ein Minimum an gut entzifferbaren, symbolkräftigen Requisiten das Spannungsverhältnis von komisch-tragischem Alltag und Traumwelt zu vermitteln vermögen. Traumbilder sind es, an denen sich Cendrillon festhält, in die sie sich vor den Schikanen und dem affektierten Getue ihrer Stiefmutter und -schwestern flüchtet. In Träumen lebt sie die Utopie einer glücklichen Kindheit wie einer wunderbaren Liebe. Christoph Wagenknecht hat die gesamte Bühne in einen schwarzen, beinahe mystischen Raum gehüllt, in dessen Zentrum sich eine schmuckvolle helle Treppe in die Höhe schwingt, Sinnbild für den illusionären Weg aus einer belanglosen Alltagswelt hinauf in eine abgehobene Traumwelt. Dieses gleichermassen schlichte wie surreal-symbolische Bild kennzeichnet das Inszenierungskonzept. Anfänglich reibt man sich ob der plakativen Regie voller Klischees etwas verwundert die Augen: hier die gestikulierende Dienerschaft, dort Cendrillons Vater Pandolfe, der nicht allein in seinem Namen, sondern auch in Pyjama und Pantoffeln eben den Pantoffelhelden gibt, und schliesslich die überdreht-exaltierte Madame de la Haltière mit ihren Töchtern. Doch schon bald erweisen sich diese Schablonen als Folie für viele psychologisch fein herausgearbeitete Gesten und Bilder.

In den Auftritten zweier Kinder (Giovanna Magistretti und Marius Morf) erzählt der Regisseur Johannes Erath Cendrillons Sehnsüchte nach verlorenem Jugendglück, die sich in einem blauen Ball und einem Dreirad mitteilen. Die Bockleiter, auf der sich der Prinz über die Plattheiten der Hofgesellschaft zu erheben versucht, symbolisiert die kleine Illusion des Abhebens gegenüber der grandiosen Treppe, die in zauberhafte Sphären führt. Und die Angst des an Werthers Melancholie erinnernden Prinzen vor dem Brautgewand vermengt gleich eine ganze Reihe freudscher Symbole. Der blaue Ball des Mädchens, Cendrillons roter Schuh, der in Eraths Regie immer stärkere Symbolkraft gewinnt, und das weisse Brautkleid können natürlich auch als eine leise Anspielung an die Farben der Trikolore verstanden werden.

Zauberhafte Musik

Dass der Prinz in eine Frauenrolle gekleidet ist, verstärkt nicht allein das musikalisch Abgehobene des Liebespaars Cendrillon–Prinz, sondern lässt Cendrillons Liebe auch als Selbstfindung erscheinen. Nicht zufällig hat Massenet das grosse Liebesduett im Feenbild einstimmig komponiert. Hélène Le Corre als Aschenbrödel und Claude Eichenberger als Prinz ergänzen sich sowohl in den affektiven wie in den lyrischen Partien herausragend. Klajner hält das Orchester bis ins Verhauchende zurück, lässt aber dem Verströmen der Musik Raum und Zeit.

Monica Minarelli als Mutter sowie Anne-Florence Marbot und Solenn’ Lavanant-Linke als deren Töchter brillieren in ihrer präzisen Virtuosität, wobei vor allem deren Ballerzählung einen köstlichen Kontrapunkt zu den schwärmerischen Traumbildern erzeugt. Vincent Le Texier gibt nicht bloss den larmoyanten Pantoffelhelden, sondern hat auch Momente voller Pathos, in denen man sich etwas mehr stimmlichen Strahl wünscht. Schliesslich verzaubert Marta Casas Bonet als Fee mit zwar kleiner Stimme, aber virtuosen Koloraturen und impressionistischen Klängen. Klajner unterstreicht mit dem Berner Symphonie-Orchester die faszinierende Vielseitigkeit von Massenets wunderbarer Orchestersprache, ebnet weder das mal laut pathetische, mal karikierende Hofleben, nicht die bizarre Heroldsmusik noch die avancierten Klänge der Traumbilder ein.

Massenets «Cendrillon» ist ein prächtiges Feiertagsprogramm, eine schwelgerisch-zauberhafte Musik obendrein. Die Berner Inszenierung regt aber auch zum Nachdenken an, mischt Traum mit Bedrohlichem, Alltag mit Illusionen. Ein Weihnachtsmärchen mit besonderem Charme.