Verlorene Illusionen

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (02.10.2006)

Trouble in Tahiti, 30.09.2006, Luzern

Puccinis «Gianni Schicchi» und Bernsteins «Trouble in Tahiti» in Luzern

Schon die Koppelung von Puccinis «Gianni Schicchi» mit Wolf-Ferraris «Segreto di Susanna», die gegenwärtig im Zürcher Opernhaus zu sehen ist, hat Raritätenwert. Doch das kleine Luzerner Theater geht noch einen kühnen Schritt weiter. Auf die Erbschleicherkomödie folgt hier «Trouble in Tahiti», die erste Oper Leonard Bernsteins. Die Regisseurin Sandra Leupold stellt die beiden Werke nicht einfach nebeneinander, sondern verbindet sie so, dass der Chronologie der 1918 bzw. 1952 uraufgeführten Einakter eine inhaltliche Entwicklung entspricht. «Gianni Schicchi» ist in dieser Optik weniger das Stück der Titelfigur - so gekonnt Gregor Dalal mit zwei Stimmen spricht, dem näselnden Falsett des verstorbenen Buoso Donati, den Schicchi spielt, um dessen Testament abzuändern, und seinem eigenen, kraftvoll sonoren Bariton; im Vordergrund steht vielmehr das Liebespaar Rinuccio (Martin Nyvall) und Lauretta (Simone Stock), das dank Schicchis List zusammenkommt.

Leupold erzählt die auf Dante zurückgehende Geschichte in bunten Renaissancekostümen auf einer ortlosen Bühne (Andrea Eisensee), die durch eine nach hinten ansteigende Wölbung strukturiert wird. Rieselnder Schnee zeigt - etwas penetrant - das Klima wachsender zwischenmenschlicher Kälte an. Denn diese Liebe - die Liebe überhaupt? - ist ein Traum, eine Illusion, das macht Leupold deutlich, indem sie das junge Paar zugleich in eingeblendeten Filmszenen auftreten lässt. Am Schluss der Puccini-Oper, während bereits Bernsteins Musik erklingt, sitzt auf Kinosesseln ein anderes, nach der Mode der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts gekleidetes Paar und schaut sich diesen Film an.

Es sind Sam (Howard Quilla Croft) und Dinah (Caroline Vitale), die Bernsteins Eltern nachgebildeten Protagonisten von «Trouble in Tahiti». Und sie spielen uns die triste Fortsetzung der Liebesgeschichte vor: Eheleute aus dem Mittelstand, die sich nichts mehr zu sagen haben, in ihrer Selbstbezogenheit sogar den kleinen Sohn vergessen und sich schliesslich in die schöne, verlogene Scheinwelt des Kinos flüchten. Auf der Leinwand erscheinen wieder Rinuccio und Lauretta, während ein «Trio» (Madelaine Wibom, Matthias Aeberhard, Frederik Baldus) in wechselnden Kostümierungen auf dem «Schneeband» die Slogans von Liebe, Glück und Harmonie intoniert.

Nicht nur inhaltlich, auch musikalisch kann «Trouble in Tahiti» als eine Fortsetzung von «Gianni Schicchi» gesehen werden, das macht diese Werkkombination doppelt anregend. Bei Bernstein gibt es - als Sehnsuchts- oder Traummomente - Arien von ausladender Melodik, aber die «Umgangssprache» ist jazzhaft, swingend. John Axelrod, der Luzerner Chefdirigent, der die Verbindung des italienischen und des amerikanischen Einakters initiiert hat, bewegt sich in beiden musikalischen Welten gewandt und mit einer Energie, die sich nicht nur auf das Luzerner Sinfonieorchester, sondern auch auf das spielfreudige, sängerisch homogene Ensemble überträgt.