Die Liebe am Ende der Verstellung

Herbert Büttiker, Der Landbote (11.09.2006)

La finta semplice, 08.09.2006, Winterthur

Der Griff ins volle Theaterleben: Die Premiere mit Mozarts «La finta semplice» reisst den Vorhang für die Saison im Theater Winterthur weit auf und zeigt: ein ausgewachsenes Stück.

Dass der zwölfjährige Mozart Musik auf hohem Niveau zu schreiben verstand, dass seine erste eigentliche Oper zauberhafte Arien enthält: das war vielleicht bekannt, und darauf durfte man sich auch freuen. Aber das umfängliche Werk, die komplizierte Intrigengeschichte, die vielen Arien – ob das auch ein spannender Abend würde?

Und wie! lässt sich jetzt nach einer Aufführung voller szenisch-musikalischer Lebendigkeit sagen: «Bella cosa è far l'amore» lautet die Devise, aber die Umstände sprechen dagegen. Nur dank der erotischen Ablenkung durch eine Dritte können die Frauen im Haus Don Cassandros, Schwester und Zofe, den Liebeskampf mit den Bewerbern, einem Offizier und seinem Sergeanten, zur Heiratsreife vorantreiben. Bis es so weit ist, ist der Wirbel gross, den die vorgeblich einfältige Rosina, La finta semplice, verursacht.

Mozarts Sinn für das Geschehen zwischen Klamauk und echter Seelenpein, das Gespür für Situationen und Gefühle der Figuren ist erstaunlich. Die Prägnanz der späteren Meisterwerke blitzt schon vielfach auf, und die Ausdrucksfähigkeit seiner Musik ist gross, in den Gesangspartien wie in den Orchesterstimmen, die nicht nur begleiten, sondern immer auch dazwischen- oder mitzureden haben. Das zeigen sehr schön schon die ersten Arien, besonders Giacintas «Marito io vorrei». Zwei Arien der Titelheldin ragen dann in ihrer empfindsamen Schönheit heraus («Senti l’eco ove t’agiri» und «Amoretti che ascosi qui siete»), dann Polidoros Liebesarie «Sposa cara», die in ihrem lyrischen Ernst berührt. Wohl gibt es den Überhang der Arienform, aber dieser ist ja auch Vorgabe des Librettos, und im köstlichen Duett der beiden Duellanten zeigt sich Mozart bereits als Meister der musikalischen Aktion, und da sind schon die Finali, in denen Musik und Szene im unaufhaltsamen Zug bezwingend ins Totale verschmelzen.

Imponierendes Ensemble

Ebenda bewährt sich das Ensemble auch als junges, zusammengewachsenes Team. Das Orchester des Musikkollegiums spielt unter der Leitung von Theodor Guschlbauer klangschön und flüssig, nicht immer zu letzter Schärfe fokussiert, aber auch ohne forcierten Nachdruck. Bis hin zur dramatischen Verve (Giacintas c-Moll-Arie) bewährt sich ein musikantisch frischer Mozart-Stil von beeindruckender Homogenität. Darin fügt sich auch sängerisch das eine zum anderen: Christiane Kohls Rosina mit schlankem Sopran schalkhaft und lyrisch seriös in einem, Eva Liebaus Ninetta im kleineren Format der Kammerzofe ebenso anmutig und keck, Liliane Nikiteanus Giacinta schwerblütig und dramatisch intensiv.

Auch die vier Männer agieren musikalisch differenziert: Mit dem noblen, fein zentrierten Tenor von Shawn Mathey und Ruben Droles kernig burschikosem Bass ist das militärische Ranggefälle zwischen dem Hauptmann Fracasso und seinem Sergeanten klargestellt, und das problematische Verhältnis zwischen den schwerenöterischen Brüdern Don Cassandro und Don Polidoro ist mit Reinhard Mayrs griffiger Tiefe und der tenoralen Larmoyanz vom Boguslaw Bidzinski musikalisch ebenso stimmig vorgeprägt.

Jens Daniel-Herzogs Inszenierung hält all diese musikalische Differenzierung unter das Vergrösserungsglas einer analytischen Regie, die eine drastische Sprache nicht scheut, sie aber immer einfallsreich und mit komödiantischer Leichtigkeit einsetzt. Dabei geht das umtriebige Spiel manchmal auch auf Kosten des Musikalischen, aber zum einen ist die virtuose Kunst, schauspielerische Akti on und musikalische Konzentration zu verbinden, in diesem Ensemble immer wieder verblüffend gross, zum anderen gibt die szenische Prägnanz, der Musik auch vieles zurück. Und wie der junge Mozart die Fracht trägt!

Mathis Neidhardts aufwendiges Bühnenbild mit Salon und Bibliothek, Galerie und Treppenhaus ist ein grosser Wurf: ein räumlich vielschichtiges Spielfeld und zugleich Grundlage der Deutung: bildungsgepanzerte Bürgerlichkeit, die mit Bretterverschlag vor der wilden Soldateska geschützt wird und in der die Liebe nun erst recht ein Chaos anrichtet. Da bleibt nichts im Dunkeln, und allenfalls bleibt die Frage, was es mit der als finta Semplice bezeichneten Titelfigur auf sich hat. Christiane Kohls Rosina ist freimütig, überlegen, unkompliziert. Aber «einfältig»? Ist das nicht vielmehr die Frau, die vif und überlegen alles verbindet, unbefangene Erotik und verbindliches Gefühl? Das Moment der Verstellung scheint zu fehlen. Aber wir vermissen es nicht wirklich.