Gut oder bös oder beides?

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (24.12.2007)

La Juive, 22.12.2007, Zürich

«La Juive» von Fromental Halévy im Opernhaus Zürich

Leicht ist dieser Abend nicht, weder in seinem musikalischen Ausdruck noch in seinem Anspruch an das aktiv deutende Mitdenken, doch gerade darin liegen sein Reiz, seine Spannung und seine nun allerdings nachhaltige Wirkung. Eine Grand Opéra sei «La Juive» von Fromental Halévy (1799–1862) und neben «Les Huguenots» von Giacomo Meyerbeer und «Les Troyens» von Hector Berlioz eines der berühmtesten Stücke dieser Gattung, so viel ist bekannt. Was das Opernhaus Zürich in der jüngsten Produktion dieses im 19. Jahrhundert omnipräsenten und weitherum geschätzten Werks aber zeigt, ist ein musikalisch wie szenisch aufs Sorgfältigste ausgestaltetes, ja geradezu ausgekostetes Drama zwischen Menschen, und das ist so doch ziemlich neu.

Fokussierung

David Pountney, der hiermit eine seiner interessantesten Arbeiten vorlegt, bleibt der Anlage von «La Juive» als Grand Opéra nichts schuldig, wiewohl er weiss, dass das Stück mit seinen immensen Tableaus für einen Raum wie den des Opernhauses Zürich im Grunde eine Nummer zu gross ist. Den Ausweg aus dem Dilemma bietet die Drehbühne, mit deren Hilfe der Ausstatter Robert Israel nacheinander vorführt, was auf einer grossen Bühne wie jener des Pariser Palais Garnier nebeneinander Platz hätte. Auch das Divertissement in Form der (von Renato Zanella einfallsreich choreografierten) Ballette kommt zu seinem Recht – wobei hier freilich die Schwäche der musikalischen Handschrift Halévys besonders zutage tritt und die Spannung nachlässt.

Indessen zeichnet Pountney die Massenaufzüge, die immerhin einen in Pogromstimmung versetzten Mob, den Auftritt eines (stummen) Kaisers und die herrischen Interventionen eines mächtigen Kardinals vorführen, mit vergleichsweise sparsamem Strich, so dass sich das Gefühl der Enge nur selten einstellt. Als umso bedeutungsvoller erscheint der interpretierende Zugriff des Regisseurs. Er lässt das Stück nämlich nicht in der vom Libretto vorgegebenen Zeit des Konzils zu Konstanz (1414) spielen, sondern – davon zeugen nicht zuletzt die prachtvollen Kostüme von Marie-Jeanne Lecca – im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und er bringt es konkret mit der Dreyfus-Affäre in Verbindung. Das mag als Anachronismus erscheinen, liegt der Skandal um den zu Unrecht der Spionage bezichtigten und entehrten jüdischen Hauptmann doch ein gutes halbes Jahrhundert nach der 1835 in Paris uraufgeführten Oper Halévys. Es legt jedoch frei, wie sehr es in «La Juive» nicht um eine Geschichte aus vergangenen Zeiten geht, sondern ganz allgemein um das Vorurteil, um brachiale Rechthaberei und die Ausgrenzung des Andersdenkenden – um Fragen mithin, die bis in unsere Tage von bedenklicher Aktualität geblieben sind.

Denn anders als in der gefeierten, mittlerweile auch auf DVD erhältlichen Wiener Produktion von Halévys «Juive» (1999) fällt hier scharfes Licht auf die Spannungen zwischen den Akteuren der schrecklichen Geschichte. Und zwar gleich im ersten Akt, der geschickt gekürzt ist (ohne Kürzungen geht es nicht in diesem überlangen Werk) und den Knoten mit zwei, drei Handgriffen schürzt. In der Titelpartie des zu Reichtum gekommenen jüdischen Goldschmieds Eléazar scheint Neil Shicoff hier noch nicht ganz bei sich selber; sein Tenor klingt etwas angestrengt, auch etwas laut und verschliffen in den kaum ausgesprochenen Konsonanten – aber es wird rasch deutlich, dass hier einer aus tiefer Verbitterung heraus auf sein Anderssein pocht. In ausgeprägtem Gegensatz dazu steht die Figur des Kardinals Brogni, der den Goldschmied einst fürchterlich getroffen hat, ihm jetzt aber, in einer Position der gesicherten Macht, wohlmeinend die Hand der Versöhnung entgegenstreckt – mit seinem voluminösen Bass steigt Alfred Muff nicht nur mühelos in die Kellertiefen herab, die ihm Halévy bereithält, er verströmt auch volle Wärme.

Das Passahfest bei Eléazar, in das sich der christliche Reichsfürst Léopold einschleicht, um der geliebten Rachel nahe zu sein, bietet den nächsten dramatischen Eklat. Grossartig, wie sich hier das Geschehen verdichtet – das ist das Verdienst des meisterlich angelegten Textbuchs von Eugène Scribe, der Musik Halévys, die ihre Schwächen haben mag, die Bühnensituationen aber effektvoll in Klang bringt, wie auch der Akteure, die unter der Anleitung des Regisseurs das Geschehen scharf auf den Punkt bringen. Neil Shicoff lässt die Abgründe in der Figur des Goldschmieds sehen, während Celso Albelo (Léopold), der über eine miserable Diktion verfügt, an der Premiere trotz Indisposition seine Spitzentöne aber gut traf, den opportunistischen Egoismus dieses Reichsfürsten krass herausarbeitet. Je weiter der Abend voranschreitet, desto mehr richtet sich die Aufmerksamkeit allerdings auf die spanische Sopranistin Angeles Blancas, die mit ihrem vollen und zugleich vielfach abschattierten Ton, ihrem ebenso festen wie obertonreichen Timbre, dem perfekten Registerausgleich und der Sicherheit in den Sprüngen die Rolle der Rachel in hellstes Licht stellt.

Nach dem meist gestrichenen Zwischenspiel, das der Prinzessin Eudoxie gehört (Malin Hartelius meistert diese undankbare Rolle ausgezeichnet), spitzt sich die Sache rasch zu. Léopold möchte Rachel, kann aber nicht, da er Christ und zudem Eudoxie versprochen ist. Dennoch hat er der schönen Jüdin Hoffnungen gemacht und ihr Herz gebrochen, wofür sich Rachel mit öffentlicher Anklage rächt – eindrücklich, zu welchem Stolz Angeles Blancas hier findet. Schade, dass das Orchester der Oper Zürich bloss wacker mithält; mehr holt Carlo Rizzi, ein versierter Kapellmeister, der kaum gemerkt hat, dass es sich hier um französische Musik handelt, nicht heraus.

Explosion

Das Verflixte ist nur, dass Rachel keine Jüdin ist, sondern die von ihrem Vater für tot gehaltene, vom Goldschmied in jüdischem Geist aufgezogene Tochter aus einer früheren Lebensphase des Kardinals Brogni. Daraus erwächst der Albtraum, in den «La Juive» bis hin zur grausamen Exekution von Eléazar und Rachel mündet. Neil Shicoff, der auch diese Aufgabe mit restloser Identifikation erfüllt, steigt in den Momenten der Verzweiflung weit über das Darstellen hinaus in Bereiche des Existenziellen. Der jüdische Goldschmied, das ist mit Händen zu greifen, ist weder bloss gut noch bloss böse, sondern beides: ein Mensch eben. Und als seine vermeintliche Tochter ist ihm Angeles Blancas in den Augenblicken der Demütigung, der Hoffnungslosigkeit und des letzten Aufbäumens eine mehr als ebenbürtige Partnerin. Am Ende adelt der Startenor die junge Sopranistin durch seinen Kuss.