Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (11.09.2006)
«La finta semplice» von Mozart im Theater Winterthur
Im Mozart-Jahr widmet das Zürcher Opernhaus die traditionelle Gastproduktion in Winterthur einem selten gespielten Frühwerk des Komponisten, der Opera buffa «La finta semplice».
Die traditionelle Eröffnungspremiere im Theater Winterthur gilt abwechslungsweise einer Spielplan-Rarität oder einer Operette. «La finta semplice», vom 12-jährigen Mozart in kaiserlichem Auftrag für Wien komponiert, aber dort (und vielleicht überhaupt) zu seinen Lebzeiten nie aufgeführt, ist beides, auch wenn sie offiziell die Gattungsbezeichnung Opera buffa trägt. Was in dieser Adaption eines Goldoni-Stücks zwischen zwei schrulligen Brüdern, ihrer Schwester und deren Zofe sowie einem ungarischen Hauptmann mit Anhang abläuft, kann es leicht mit jeder Operettenhandlung aufnehmen.
Das Wunderkind und der Eros
Der bei den Brüdern einquartierte Hauptmann Fracasso umwirbt deren Schwester, sein Sergeant Simone die Zofe. Doch zur Heirat bedarf es der Einwilligung des notorisch frauenfeindlichen Don Cassandro, der als Familienoberhaupt seine Geschwister tyrannisiert. Um Cassandros Widerstand zu brechen, soll er selbst verliebt gemacht werden, und zwar durch Fracassos eben eingetroffene Schwester Rosina. Cassandro beisst an, aber noch schneller als er verliebt sich sein einfältiger jüngerer Bruder Don Polidoro in die attraktive Besucherin. So verwandelt sich der schöne Landsitz bald in ein Tollhaus, in dem Liebes-, Besitz- und Freiheitstrieb hart aufeinanderprallen.
Was soll man davon denken, dass ein solcher Stoff einem 12-Jährigen zur Vertonung in die Hand gegeben wurde? Mozart hat wohl das geliefert, was von einem Wunderkind erwartet wurde: glänzende melodische Einfälle, eine jugendliche Frische des Tones und eine erstaunliche Kunstfertigkeit im Umgang mit den Gattungskonventionen. Dies alles bringt Theodor Guschlbauer mit dem konzentriert und gelöst aufspielenden Winterthurer Orchester voller Elan zur Wirkung. Den Seelenton, der für Mozarts spätere Opern charakteristisch ist, vernimmt man in «La finta semplice» allerdings nur momentweise. Merkwürdig ist dennoch, dass das zentrale Thema von «Figaro», «Don Giovanni» und «Così fan tutte», die unwiderstehliche Macht des Eros, schon hier, in Mozarts erstem vollendeten Bühnenwerk, angeschlagen wird.
Chaos und Ordnung
Jens-Daniel Herzog, der am Zürcher Opernhaus bisher ausschliesslich musikdramatische Schwergewichte inszeniert hat, versucht nicht, die possenhafte Buffa zu nobilitieren. Dem Schematismus des turbulenten Handlungsverlaufs begegnet er ohne Scheu mit schwankhaften Gags. Trotzdem bleibt seine dramaturgische Leitidee stets erkennbar: zu zeigen, wie hier in eine bis zur Verklemmtheit verbürgerlichte Lebenswelt die ungebändigte Sinnlichkeit einbricht und die scheinbar festgefügte Ordnung einstürzen lässt.
Dass dies in einer ehrwürdigen Bibliothek (Ausstattung Mathis Neidhardt) geschieht, quasi am Sitz von Ordnung und Vernunft, zeugt allerdings von szenischem Witz der höheren Art. Und dass die beiden Brüder die kostbaren Bücherbestände mit Sperrholzplatten verdecken, bevor sich Fracasso und Simone mit ihrer Militärausrüstung breit machen, lässt ebenso auf ihr Misstrauen schliessen wie der Willkommensgruss der Schwester Giacinta und der Zofe Ninetta («Benvenuti soldati») auf deren Liebeserwartungen.
Überhaupt erweist sich die Personenzeichnung als Herzogs Spezialität - da spürt man einerseits seine Schauspielerfahrung, anderseits seine Feinhörigkeit, denn auch in Mozarts Musik gewinnen die Figuren ein ausgeprägtes Eigenleben. Das Ensemble, bis zum Schuhwerk signifikant kostümiert, bewegt sich in den durchaus nicht leichten Vokalpartien so souverän, dass es seiner Spiellaune freien Lauf lassen kann. Umwerfend komisch und stimmlich nicht weniger agil als darstellerisch Reinhard Mayr als Cassandro, von hinterlistiger Dümmlichkeit Bogusaw Bidziskis Polidoro, vielfarbig schillernd zwischen Hingabe und Verweigerung Liliana Nikiteanus Giacinta, charmant resolut Eva Liebaus Ninetta.
Ungarischerseits wird der prall komödiantische, auch sängerisch voll präsente Simone von Ruben Drole zum Sympathieträger. Daneben wirkt Shawn Matheys Fracasso trotz seiner edlen Tenorstimme steif, und Christiane Kohl mit ihrem scharfen, nicht immer ganz intonationsreinen Sopran gibt kaum zu erkennen, dass Rosina die Titelfigur und deren Einfalt vorgetäuscht ist. Ebenso wenig glaubt man ihr, dass das Spiel mit der Liebe für sie unversehens ernst wird. Herzogs offener Schluss - die Umworbene verschwindet diskret, ohne sich für einen der Brüder entschieden zu haben - läuft deshalb ins Leere.