Nur die Prinzessin liebt und lebt unbelastet

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (24.12.2007)

La Juive, 22.12.2007, Zürich

Das Opernhaus Zürich wagt sich mit Halévys Oper «La Juive» an einen erstaunlich aktuellen Stoff.

Mehr als eine Stunde ist vorbei; wir sind bereits im zweiten von fünf Akten. Die Tragödie ist noch nicht wirklich in Gang gekommen, die Personen wahren alle ihre Geheimnisse. Bisher waren eher Genrebilder zu sehen, Volksaufläufe, ein Aufzug, ein jüdisches Ritual, die Drehbühne drehte sich zuweilen arg viel, fast ein bisschen orientierungslos, die Musik hat noch nicht ihren Fluss gefunden, wirkt zuweilen etwas langatmig, der Dirigent hat sie nicht zum Zünden gebracht. Da taucht in der Goldschmiede des Juden Eléazar eine junge Frau auf, die geradewegs aus dem Weihnachtsrummel zu kommen scheint, allen Stress mit liebevollem Humor bewältigt und nun noch ein Willkommensgeschenk für ihren Gatten Léopold wünscht, denn der kehrt als Sieger über die Ketzer zurück (dabei sitzt er unerkannt in eben dieser Werkstatt).

Man atmet auf. Diese Frau, die Prinzessin Eudoxie, ist allein durch ihren leichteren Tonfall eine Ausnahmegestalt in der Oper «La Juive» von Jacques Fromental Halévy (1799-1862). Sie wirkt oberflächlich, unbelastet von den Konflikten, sie stellt nichts dar als eine Liebende. Die Eudoxie in der Gestalt von Malin Hartelius lässt spüren, dass alles anders sein könnte. Und dadurch gerade bringt sie Leben in diese Grand Opéra, die so Grosses verhandelt wie die Ausgrenzung der Juden durch die Christenheit.

Im Licht der Dreyfus-Affäre

Eigentlich spielt das Stück im Konstanz des Konzils von 1415, von den Kostümen (Marie-Jeanne Lecca) und vom Bühnenbild (Robert Israel) her wird es jedoch ins Frankreich der 1890er-Jahre verlegt, wo nach der Dreyfus-Affäre der Antisemitismus offen ausbrach. Die Juden werden verachtet und sie entgehen, wegen geringfügiger Gesetzesüberschreitungen verurteilt, zweimal nur knapp der Hinrichtung. Diese politische Brisanz ist bei dieser Zürcher Premiere weit über eine Stunde lang zunächst einmal eine szenische Behauptung. Erst durch den alltäglich wirkenden Auftritt der Eudoxie, die beim Juden eine Goldkette kaufen will, kommt richtig Bewegung in die Handlung. Kurz darauf wird Léopold, der sich als jüdischer Maler bei Eléazar eingeschlichen hat, um näher an dessen Tochter Rachel zu sein, seiner Geliebten bekennen, dass er ein Christ ist.

Diese wird sich ihrerseits bei Eudoxie als Dienerin einschleichen, um dort im entscheidenden Moment öffentlich Léopold der verbotenen Beziehung zwischen Jüdin und Christ zu bezichtigen. Weshalb Rachel, Eléazar und Léopold zum Tod verurteilt werden. Rachel rettet zwar - auf Eudoxies Intervention - Léopolds Leben, indem sie ihre Anschuldigung zurücknimmt, stirbt aber mit dem Vater, weil sie sich nicht taufen lassen will. Dabei - das ist der Clou des Werks - ist sie selber die Tochter des späteren Kardinals Brogni, der einst Eléazars Söhne an den Galgen lieferte und der glaubt, seine Frau und seine Tochter in einer Feuersbrunst verloren zu haben. Erst mit dem Tod Rachels - es ist schon zu spät - erfährt er die Wahrheit. Das ist Eléazars Rache.

Das ist wahrhaft kompliziert, aber die Verwicklung ist in diesem Fall nicht durch ein schlechtes Libretto bedingt, sondern sie zeigt vielmehr die vielschichtigen Konflikte auf, die sich hier übereinander lagern. Halévy und sein Librettist Eugène Scribe dachten an die Probleme beim Assimilationsprozess der Juden. «La Juive», 1835 in Paris uraufgeführt, hat gerade wegen der inneren Zerrissenheit der Personen nichts von seiner Aktualität verloren.

Mitreissende Sänger

Diese Grand Opéra, die natürlich einst auch das Unterhaltungsbedürfnis des Grossbürgertums befriedigen musste, ist ein inneres Drama. Nur ist dieses nicht so leicht darzustellen; Regisseur David Pountney wählt einen doppelten Weg: auf der einen Seite durch den Hinweis auf die Dreyfus-Affäre, die mit den karikierenden Balletten (Choreografie: Renato Zanella) und im Bühnenbild illustriert wird. Dieser äussere Rahmen ist auf der anderen Seite aber nur das optische Kostüm für den inneren Konflikt, und der lässt sich visuell nicht transferieren.

Das weiss Pountney zum Glück. Dort, wos in die Tiefe geht, verzichtet er aufs Bebildern, dort vertraut er den Personen, den grossartigen Sängern: Neben der anrührenden Eudoxie wird das etwa im Kardinal Brogni spürbar, den Alfred Muff eindrücklich als einen längst gebrochenen Menschen darstellt. Der durch sein Doppelleben verunsicherte Léopold (Celso Albelo vermochte sich trotz Grippe noch zu schönen Tönen zu steigern) verschwindet allmählich von der Bildfläche. Umso zentraler jedoch wird das Vater-Tochter-Paar, dem die grossen dramatischen Momente gehören. Angela Blancas als Rachel ist von tragischer Grösse, eine ebenso im Forte wie im Piano eindringliche Darstellerin. Neil Shicoff, der den Eléazar als seine Lebensrolle bezeichnet, versenkt sich mit ungemeiner Konzentration in die Widersprüchlichkeit dieser Persönlichkeit, macht sie erleb- und sogar nachvollziehbar. Zunächst wirkt sein Tenor etwas gar gross für das Haus, allmählich aber entwickelt er eine geradezu magnetische Strahlkraft, die die Aufmerksamkeit zu Recht auf sich zieht.

Ausser für Shicoff war die Oper für alle Beteiligten neu, das blieb letztlich in der Musik spürbar. Zwar vermögen sich Chor und Orchester unter der Leitung von Carlo Rizzi zu steigern. Die anfänglichen Unsicherheiten, aber auch eine gewisse Unbestimmtheit, die Rizzi nicht ganz zu bannen vermag, prägen die erste Stunde, sie lösen sich schliesslich auf. Es gelingen mitreissende Momente, und auch einige Farbakzente werden schön gesetzt. Dennoch böte sich diese Partitur an, weiter ausgeleuchtet zu werden. Halévy hat einige spannende Experimente gewagt, weniger in der Nähe des frühen Verdi (wies hier zuweilen klingt), sondern in jener der Symphonie fantastique von Berlioz. Das wäre auszuarbeiten. Es trat bei dieser Wiederentdeckung in den Hintergrund. In Zürich stehen die Sänger im Scheinwerferlicht, und die wurden zu Recht umjubelt.