Tobias Gerosa, Der Bund (24.12.2007)
Das Opernhaus Zürich bringt Halévys «La Juive» unentschlossen auf die Bühne.
Soll man die Grand Opéra mit ihrem Schaugepränge aus der Versenkung holen und reaktivieren? Vielleicht schon, aber gelingen kann das so nicht, wie es das Opernhaus Zürich mit Jacques Fromental Halévys «La Juive» tut.
Oper kann paradox und brutal sein: Im vierten Akt von Jacques Fromental Halévys «La Juive» ringt sich Éléazar (Neil Shicoff) in der eindrücklichsten Arie des Werkes zum Entschluss durch, dass er Rachel lieber zur Hinrichtung ausliefert, als zu verraten, dass sie gar nicht seine leibliche Tochter, sondern Christin ist. Mit welcher Intensität Neil Shicoff hier gestaltet und sich voll und ganz in seine Figur hineinlebt, ist unmittelbar ergreifend: Hier wird der Schmerz spürbar, den der jüdische Goldschmied empfindet, die langen hohen Töne bekommen alle ihren inneren Sinn. Und kaum ist diese Szene verklungen, in der ein bisher höchstens lauer und unentschiedener Opernabend beklemmend wurde, bricht ein Bravosturm los. Shicoff hat ihn ohne Zweifel verdient, doch für den dramatischen Bogen ist er fatal und zeigt, dass der Inhalt trotz Übertitel leider weniger wichtig genommen wird als der sängerische Glanz.
Mit scharfer Ironie
Denn bei «La Juive» gilt es, über den Inhalt nachzudenken. Da opfert der jüdische Fanatiker Éléazar (der Sympathieträger) das Mädchen, das er einst aus einem brennenden Haus rettete. Es war die Tochter des christlichen Fanatikers und jetzigen Kardinals Brogni, der die Söhne des Juden umbringen liess. Bei Halévy und seinem Librettisten Eugène Scribe kommen beide Seiten schlecht weg. Dass im Zürcher Drehbühnenbild Robert Israels die geistlichen Bannsprüche und Urteile vor einem Bild des neugeborenen Jesuskindes verkündet werden, zeugt bei der vorweihnachtlichen Premiere von scharfer Ironie. Diese Schärfe zeigt in der vierstündigen Aufführung nur noch der ätzende, antisemitische Spottchor, der kraft- und klangvoll unmittelbar nach Éléazars Arie gesungen wird. Vor allem vor der Pause herrscht auf der Bühne szenische Unentschlossenheit. Regisseur David Pountney hat das Stück vom 15. Jahrhundert des Konstanzer Konzils ins Frankreich der Affaire Dreyfus verlegt. Ein Erkenntnisgewinn entsteht daraus genauso wenig wie durch die Gaskammern, die er am Schluss zeigt.
Transformation ohne Gewinn
Der mittelalterliche Judenhass (und Éléazars Ablehnung des Christentums) ist vom Antisemitismus gegen den assimilierten Generalstabsoffizier der 1890er-Jahre ziemlich weit entfernt. Der Handlungsstrang, dass der christliche Heerführer Léopold ein Verhältnis mit der schönen angeblichen Jüdin Rachel hat, verliert dadurch gar an Brisanz – und Celso Albelo, der die Rolle trotz angekündigter Erkrankung mit wunderbar hellem und leicht ansprechendem Tenor singt, tut darstellerisch und mit radebrechendem Französisch herzlich wenig für die Glaubwürdigkeit seiner Figur. Weil die Regie mehr auf Organisation der Bilder denn auf Personenführung setzt, kommt die Aufführung erst in den Duetten nach der Pause richtig in Gang. Als Rachel, die zwischen Vater und Liebhaber, zwischen Jude und Christ steht, blüht Angeles Blancas musikalisch wie szenisch auf und gestaltet mit sicherer Technik eine starke Frau.
Malin Hartelius als Prinzessin Eudoxie glänzt nicht nur mit perlenden Läufen und Eleganz, sondern holt darstellerisch viel aus ihrer blässlichen Figur heraus. Auch Alfred Muff, der mit der Tessitur, der Sprache und dem französischen Stil kämpft, hat hier gute Momente; diese reichen jedoch nicht, seinem Kardinal Brogni als Gegenspieler Éléazars genügend Gewicht zu geben. Musikalisch sorgt Dirigent Carlo Rizzi für ein robustes Fundament, das man sich aber deutlich differenzierter und im Gestus französischer vorstellen kann, was sich denn auch auf die Solisten übertragen könnte.
Auseinandersetzung lohnt sich
Schnell gerät Rizzi in ein dröhnendes Forte und betont den monumentalen, aufgeblasenen Charakter der Musik. Die von Renato Zanella choreografierte Balletteinlage (eine in Fremdenfeindlichkeit abdriftende Ballettlektion) macht eher deutlich, warum diese genretypischen Einschübe meist gestrichen werden. Trotz alledem bleibt die Begegnung mit einem spannenden Stück in Erinnerung, mit dem sich die Auseinandersetzung lohnt.