Schmerzvolle Gratwanderung

Herbert Büttiker, Der Landbote (24.12.2007)

La Juive, 22.12.2007, Zürich

Die Werke der «Grand Opéra» sind besser als ihr Ruf. Fromental Halévys «La Juive» lässt sich jetzt im Opernhaus als musikalisches Meisterwerk der Gattung entdecken. Wie brisant dieses thematisch war und geblieben ist, zeigt die Inszenierung.

«La Juive» ist erstmals seit 80 Jahren wieder in Zürich zu sehen.Zufällig ist das nicht: Der Ruf der Gattung «Grand Opéra» insgesamt war nie der beste und kam aus der Mode, die spektakulären Werke – fünf Akte, Balletteinlagen, Massenszenen – sind sperrig, die vokalen Anforderungen gross. Im Falle Jacques Fromental Halévys (1799–1862) kam wie bei Giacomo Meyerbeer hinzu, dass sie jüdische Komponisten waren. Für «La Juive» war in den Zeiten des Faschismus ohnehin kein Platz mehr, galt die Oper doch als «Verherrlichung des Judentums» – was allerdings eine differenzierte Sicht keineswegs bestätigt.

«La Juive» ist ein unbequemes Werk nach allen Seiten hin, keine jüdische Oper, sondern eine Oper über Antisemitismus und über ein Judentum, das auch negative Vorurteile bestätigt, und darüber hinaus über gesellschaftliche Zwänge, individuelles Versagen und menschliche Tragik. Und gerade in diesem Aspektreichtum, hinter dem auch die musikalischen Möglichkeiten Halévys keineswegs zurückblieben, war «La Juive» ein zukunftsweisendes Werk, gerühmt von Wagner und Verdi, zu deren Lehrwerken die Oper gehörte. Beide waren sie gerade mal gut zwanzig, als sie am 23. Februar 1835 uraufgeführt wurde.

Die Aktualität der Thematik ist geblieben, die Faszination einer über weite Strecken sensiblen und intensiven musikalischen Dramatik auch. Dass die «Jüdin» aber jetzt wieder Furore macht, ist dem Tenor Neil Shicoff zu verdanken, der sich für dieses Werk einsetzt und die Figur des Eléazar schon in Wien und Paris verkörpert hat und nach der zentralen Arie im vierten Akt nun an der Premiere auch in Zürich einen geradezu explosiven Szenenapplaus provoziert hat. Dass ihm die Partie, in der nach eigenem Bekunden auch Biografisches nachklingt, zur «Lebensrolle» geworden ist, war hier in jeder Faser seiner Darstellung und musikalischen Gestaltung zu spüren. Ja, die Stimme selbst, belegt, aber glänzend und kraftvoll blühend aus schmerzlicher Energie, scheint etwas vom epochalen Schicksal mit sich zu tragen, um das es in dieser Oper geht, nicht nur in der Arie, im Kulminieren der Oper, sondern zuvor schon in den hymnischen Gebeten des zweiten Aktes. Dass gelegentlich auch bloss stentorische Monotonie zu konstatieren ist, schmälert den Gesamteindruck nicht: dass Oper hier in existenzieller Dimension ereignishaft ist.

Entgrenzungen

Die berühmte Arie ist nicht das einzige Stück grossartiger Entgrenzung in diesem Werk. Hier ringt sich der Jude dazu durch, seine Tochter, die tatsächlich das Kind des Kardinals de Brogni ist, nicht als Opfer seiner Rache in den Tod gehen zu lassen. Denn würde er Rachels wahre Identität preisgeben, wäre das Todesurteil wegen der unerlaubten Beziehung zu einem Christen schnell hinfällig. Für einen Moment siegt das (nicht genetisch begründete) Vatergefühl, bevor dann die Hetze «Au bûcher les Juifs!» wieder den Rachedurst in den Vordergrund drängt.

Auch für Rachel und Leopold gibt es den Moment der Entgrenzung, als er seine jüdische Maske ablegt und sie dazu überredet mit ihm zu fliehen: ein rauschhaftes Duo, mitreissend im musikalischen Schwung und im Wechsel der farbigen Begleitung. Celso Albelo, der den französischen Kavalier zuvor im hohen und leichten Romanzenton verkörperte, packt in dieser Szene mit beachtlicher Verve, allerdings ein wenig im Schatten der Sopranpartnerin.

Die schöne Jüdin ist nicht nur Titel-, sondern auch Hauptfigur, weil sie im weitesten szenisch-musikalischen Feld agiert, mit Duett-Beziehung nicht nur zum Liebhaber und zu den beiden Vätern, sondern auch zur Rivalin, der Princesse Eudoxie, die von Malin Hartelius mit viel französischer Koloraturenbrillanz anmutig ausstaffiert wird. Angeles Blancas gestaltet den Facettenreichtum der Rachel mit grossartiger darstellerischer Präsenz und musikalisch bewegend, mit geschmeidig vollem Sopran, souverän vom hochdramatischen Eklat im dritten Akt, wo sie ihre Beziehung vor versammeltem Hof öffentlich macht, bis zur stillen, irren Verzweiflung vor dem Gang in den Tod, den sie in ihrem jüdischen Selbstverständnis als Martyrium auf sich nimmt.

Eléazar sorgt dafür, dass Rachels Tod auch zum Martyrium für den Kardinal wird, der in diesem Augenblick erfährt, dass sie seine Tochter war. Aus dessen Schicksal hat Halévy eine der fulminantesten Basspartien der Opernliteratur geschaffen. Deren weites Spektrum füllte Alfred Muff beeindruckend aus: die getragene Kantabilität der generösen Kavatine, die Attacke der «Malédiction», die Gebrochenheit in den Duetten mit Rachel und Eléazar im vierten Akt.

Aufs Ganze gehen

Die ganze Fülle der Partitur, die auch in der fast vierstündigen Zürcher Aufführung etliche Kürzungen erfährt, schliesst gewichtige Nebenfiguren ein. Massimo Cavalletti profiliert sich als Ruggiero, Kresimir Srazanac als Albert. Der Chor des Opernhauses kommt reichlich zum Zug mit Pomp und Kirchenfrömmigkeit, und das Orchester entfaltet mit Sorgfalt (und wenigen Aussetzern) die breite Palette solistischer Bläser. Carlo Rizzi achtet auf dynamische Differenziertheit und gerät nicht in Versuchung, die Musik mit dramatischem Überdruck zu überladen. Allerdings riskiert er vielleicht manchmal auch zu wenig.

Vom Regisseur David Pountney lässt sich gerade dies nicht sagen: Was er zusammen mit dem Bühnenbildner Robert Israel, mit Marie-Jeanne Lecca (Kostüme) und Renato Zanella (Choreografie) realisiert hat, geht aufs Ganze. Seine Inszenierung erschliesst die Brisanz des Themas, nicht ohne die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts einzubeziehen, und sie respektiert gleichzeitig den Charakter des Stücks als pittoreske Historische Oper. Zur Diskussion standen für den Textdichter Eugène Scribe zunächst verschiedene Schauplätze; das Libretto verortete das Geschehen schliesslich im Jahr 1414 in Konstanz, zur Zeit der Eröffnung des Konzils, das mit dem Sieg über die Hussiten im Zeichen der «Ketzerverfolgung» stand. In der grossen Gartenszene sollten die Dekorationen «les beaux points de vue et les riches paysages du canton de Thurgovie» zeigen.

Dreyfus-Affäre als Bildgeber

Die Zürcher Inszenierung geht mit dem Werk zurück an den Entstehungsort Paris, aber über die Entstehungszeit hinaus. Hintergrund ist die Affäre um den, wie sich später zeigte: zu Unrecht, wegen Spionage verurteilten jüdischen Offizier Alfred Dreyfus, die international hohe Wellen warf und für Frankreich zur Zerreissprobe wurde, gerade wegen der antisemitischen Implikationen. Allerdings lässt sich in der Handlung der «Juive» diese Affäre ja nicht abbilden: Für einen Zola und sein berühmtes «J’accuse ...!» gibt es schlicht keine Parallele in der Oper.

Dennoch ist mit der Assoziation Dreyfus viel gewonnen. Wie sonst als in der Nähe zum modernen Staat mit seinem Militarismus, seinen Eliten und Massen, seiner Propaganda und Selbstinszenierung, der schliesslich die Todesmaschinerie in Gang setzte, könnte Judenverfolgung heute dargestellt werden? Und doch hat dieses Frankreich auch noch eine pittoreske Ferne, mit der die Inszenierung einer fragwürdigen Eins-zu-eins-Umsetzung aus dem Weg gehen kann.

So zeigt Pountney nun ein Panoptikum des Gesellschaftslebens um die Jahrhundertwende, teils historisierend, teils persiflierend, teils als albtraumhafte Vorahnung kommenden Unheils. Es gibt den Einblick in die schummrige Arbeitsstätte des jüdischen Juweliers, der durchaus provokativ am christlichen Feiertag Arbeitslärm produziert. Im grellen Licht des weissen Kirchenraumes geraten die repräsentativen Auftritte von Kaiser und Kardinal von selbst in satirische Schieflage, und erst recht wird die Ballettmusik zur Groteske genutzt: Die Eleven exerzieren mehr, als sie tanzen, und werden auf Abwehrreflexe vor dem jüdischen Gespenst eingefuchst. Die Karikaturen der Anti-Dreyfus-Kampagne irrlichtern plötzlich als unheimlicher Spuk auf grossen Plakaten über die Bühne, und auf dem Gipfel der Pogromstimmung geilt sich die Menge in fratzenhaften Masken und an schmierigem Jahrmarktstheater auf. Es gilt: Die übelste Posse kommt der Wahrheit am nächsten.

Aber dann folgt das andere Bild vor dem Vorhang, ganz nah am Bühnenrand. Eléazar und Rachel werden auf die Hinrichtung vorbereitet. Zur Marche funèbre fallen ihre langen Haare der Schere zum Oper, und genüsslich wird seine Brille zerstampft. Ganz surreal und doch nahe bei Auschwitz ist die Szenerie des Finales mit den drei automatisierten Todespforten, mit dem wie abgesägt thronenden Kardinal und dem sich umklammernden Paar, das auseinandergerissen wird. Und hier, an der schmalsten Stelle der Gratwanderung einer aktualisierenden Inszenierung, kulminierte auch der Wahrheitswille, der diesen Abend musikalisch wie darstellerisch prägte.