Schwere Kost kurz vor Weihnachten

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (23.12.2007)

La Juive, 22.12.2007, Zürich

Die jahrzehntelang kaum gespielte Opernrarität „La Juive“ von Jacques Fromental Halévy bekamen nach den Wienern 1998 und den Parisern im Frühjahr dieses Jahres nun auch die Zürcher Opernbesucher zu sehen. In allen drei Neuproduktionen verkörperte Neil Shicoff den Eléazar, eine Rolle, die wie kaum eine andere für ihn geschaffen scheint. Und trotzdem hinterliess auch die letzte Premiere im Jahr einen zwiespältigen Eindruck, selbst wenn sie gegenüber dem „Trovatore“ als ein Highlight bezeichnet werden muss.

Im alten Konstanz…

Zur Zeit des Konzils von Konstanz siedeln Halévy und sein Librettist, Eugène Scribe, die Handlung an, also am Anfang des 15. Jahrhunderts. Léopold, Reichsfürst und erfolgreicher Feldherr, verbandelt mit der Prinzessin Eudoxie, verliebt sich in Rachel, die Tochter des reichen Goldschmieds Eléazar und gibt vor, der Jude Samuel zu sein. Eléazar hält sich nicht an die verordnete Sonntagsruhe und wird mitsamt Rachel (auch damals galt schon Sippenhaft) verhaftet. Diese beschleicht ein seltsames Gefühl, als Léopold es schafft, die Soldaten zu überzeugen, die beiden freizulassen (indem er sich dem Befehlshaber zu erkennen gibt). Die unguten Gefühle verstärken sich, als sie beobachtet, wie „Samuel“ während der Pessach-Feier das ungesäuerte Brot verschwinden lässt. Sie stellt ihn zur Rede und erfährt lediglich, dass er ein Christ ist. In diesen Zeiten ist es strengstens verboten, sich als Christ/in mit einem/einer Juden/Jüdin einzulassen. Léopold bittet Rachel, mit ihm zu fliehen. Eléazar überrascht die beiden, lässt sich jedoch – entgegen seiner Art, denn er hasst die Christen aus persönlichen Gründen und ist sehr rachsüchtig – überreden, den beiden den Segen zur Hochzeit zu geben. Doch Léopold bekommt kalte Füsse und verschmäht Rachel.

Diese folgt ihm in den Palast der Prinzessin Eudoxie, die für ihn – Ironie des Schicksals – ein kostbares Geschmeide zum Zeichen ihrer Liebe bei Eléazar bestellt hat. Rachel bietet sich ihr als Dienstmädchen an und erfährt, dass Eudoxie Léopold liebt. Sie wirft ihm vor versammeltem Hofstaat seine Untreue vor, worauf sie, Eléazar und Léopold verhaftet werden.

Eudoxie bittet Rachel verzweifelt, die „Schuld“ der Beziehung mit Léopold allein auf sich zu nehmen, damit Léopold nicht auch mit dem Tode bestraft wird. Rachel willigt schliesslich ein. Kardinal Brogni, den Eléazar aus Rom kennt, wo Brogni Eléazars zwei Söhne zum Tode verurteilt hatte, versucht, Rachel zu retten. Sie weckt einen Beschützerinstinkt in ihm, den er aber nicht zu deuten vermag. Brogni hatte vor seiner geistlichen Laufbahn Frau und Tochter, die bei der Brandschatzung seines Hauses in Rom durch feindliche Truppen umkamen. Eléazar erzählt ihm nun, dass seine Tochter gar nicht starb, sondern von einem Juden gerettet wurde. Er weigert sich jedoch, Brogni den Namen des Juden zu verraten. Eléazar ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu seiner Tochter und der Rache an den Christen.

Unmittelbar vor ihrer Hinrichtung schlägt er seiner Tochter vor, sich taufen zu lassen, um so dem Tod zu entkommen. Sie weist dieses Ansinnen jedoch entrüstet zurück. Dann geht sie in den Tod, und zwar in einem pervertierten „Taufritual“: Sie wird in einen Kessel mit kochendem Wasser gestürzt. Bevor Eléazar sich von der Welt verabschiedet, bittet ihn Brogni nochmals flehentlich, ihm zu sagen, wo seine Tochter sei. Eléazar gibt vor seinem eigenen Tod nun die Wahrheit preis: Brogni hat soeben seine eigene Tochter hinrichten lassen.




… und die „Affaire Dreyfus“

Regisseur David Pountney, der Zürich schon fulminante Inszenierungen beschert hat (ich denke da u.a. an „Macbeth“ oder „La Fanciulla del West“), verlegte die Geschichte in die Zeit der „Affaire Dreyfus“, ins Frankreich des ausgehenden 19. Jhdts. Dies (gemäss seinen Aussagen im Programmheft), „damit die Musik Halévys den Zuschauern viel näher gebracht werde“. Für mich ging allerdings das Konzept nicht auf. Vieles bezog sich im Text auf die Zeit des 15. Jahrhunderts; zudem ist der pseudowissenschaftlich untermauerte, „rassisch“ begründete Antisemitismus der Dreyfus-Zeit nicht dasselbe (wenn auch genauso widerlich) wie der vorrangig religiös motivierte Antisemitismus des 15. Jahrhunderts (Juden z.B. als Christusmörder). Ausserdem dürfte zu jener Zeit in Frankreich eine Liaison zwischen Christ und Jüdin kein Todesurteil mehr nach sich gezogen haben, und ein Kardinal hätte deswegen kaum ein „Anathema“ (einen Kirchenbann) ausgesprochen. Ausser einem wirklich ästhetischen Bühnenbild auf der Drehbühne (Bühnenbild: Robert Israel) mit französischem Kolorit war nur gerade das – sonst i.d.R. gestrichene – Ballett, das als Gehirnwäsche junger Leute mit Hilfe von Karikaturen des „hässlichen Juden“ gezeigt wurde, wirklich zwingend zu Zeiten der „Affaire Dreyfus“ anzusiedeln. Aber selbst dies hätte man auch in Konstanz zeigen können. Als störend empfinde ich eine zeitliche Verlagerung einer Opernhandlung immer, wenn der Text etwas ganz anderes suggeriert (auch wenn die Obertitel dementsprechend „frisiert“ werden). Einen See, in dem der Mob die Juden ertränken will, gibt es nun mal in Paris nicht - ausser man würde den kleinen See im Bois de Boulogne meinen, aber vermutlich würden die Pariser die Juden ganz einfach in der Seine ertränken!

Natürlich ist Pountney ein grosser Regisseur, der die Leute führen kann. Wirklich überzeugt haben mich einzig die zwei letzten Akte – die aber auch musikalisch für vieles entschädigen und somit die Zuhörer in den Bann ziehen können. Richtig unter die Haut ging eine kurze Szene vor der Hinrichtung, die vor dem Vorhang spielte und wo die ganze Bösartigkeit der sogenannten „Rechtgläubigen“ gegenüber Eléazar und Rahel in kleinen, perfiden Gesten gedeutet wurde (u.a. werden Rachel die Haare abgeschnitten).

Eine Traumrolle für Shicoff

Als Eléazar fühlt sich Shicoff ganz in seinem Element. Er ist zwar seit seiner ersten Begegnung mit dieser Rolle fast 10 Jahre älter geworden, und das merkt man manchmal. Die Stimme springt nicht mehr ganz so einfach an wie damals. Trotzdem schüttelt er hier seine manchmal unerträglichen Manierismen ab. Er verkörpert den Eléazar mit Haut und Haaren, er interpretiert die Rolle in ihrem ganzen Spektrum, vermag zu differenzieren, er singt die Pianostellen genauso berührend wie die grossen dramatischen Ausbrüche. Ganz speziell zu betören vermochte er im Abendgebet anlässlich des Pessach-Fests und in seiner grossen Arie „Rachel, quand du Seigneur“, für die er mit Recht minutenlangen Szenenapplaus bekam.

Seine Tochter, Angeles Blancas, überzeugte durch ihre Bühnenpräsenz und darstellerisch packende Interpretation. Leider waren einige gesangliche Mängel zu verzeichnen. Ihre Stimme tendierte zum Schrillen, leider waren die Spitzentöne vielfach unsauber und sie neigte zum Detonieren. Hoffentlich lag das nur daran, dass sie im Vorfeld der Premiere krank war – als „Maria Stuarda“ waren diese Mängel noch nicht ersichtlich.

Celso Albelo als Léopold wurde wegen Indisposition angesagt, machte seine Sache jedoch recht gut, auch wenn er Probleme mit der Intonation hatte. Die Partie ist allerdings auch mörderisch, sehr hoch angelegt und die Spitzentöne sind kaum zu bewältigen.

Für den Kardinal Brogni hätte ich mir jemanden mit mehr Reserven im tiefen Register gewünscht als Alfred Muff. Seine Mittellage und die Spitzentöne liessen hingegen keine Kritik aufkommen, und er verkörperte den Kardinal adäquat.

Malin Hartelius’ Stimme ist bekanntlich Geschmackssache. Wie immer war sie bezaubernd anzuschauen und füllte die Rolle komplett aus. Die Koloraturen sassen perfekt – alleine ihr Vibrato machte mir zu schaffen.

Ganz allgemein muss gesagt werden, dass dem Duktus der französischen Sprache sehr wenig Gewicht beigemessen wurde und ich persönlich es als eine Schande für ein Schweizer Opernhaus empfinde, wenn man so schlampig mit der zweiten Nationalsprache umgeht.

Last but not least vermochte das Orchester unter der umsichtigen, sängerfreundlichen Leitung von Carlo Rizzi in der schwierigen, wenn auch nicht immer hochstehenden Partitur alle Register zu ziehen. Besonders hervorgehoben seien die vielen Soli, vor allem der Bläser.

Fazit: Einhelliger Applaus für alle. Das Werk hätte jedoch einiger Kürzungen (statt Öffnungen vieler Striche) bedurft, um als gelungen betrachtet zu werden. Über 3 Stunden Musik, die nicht über alle Zweifel erhaben ist und doch etliche Längen aufweist (mit Pause dauerte die Aufführung fast 4 Stunden), sind ganz einfach zu lang. Allerdings entschädigen, wie gesagt, die 2 letzten Akte für vieles.