Liebe oder Pflicht – das alte Lied

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (15.01.2008)

Le Cid, 13.01.2008, Zürich

«Le Cid» von Jules Massenet im Zürcher Opernhaus

Die erste Premiere des Zürcher Opernhauses im neuen Jahr hat unter einem schlechten Stern gestanden. Kurz vor Jahresende ist der Bühnen- und Kostümbildner Andreas Reinhardt gestorben. Über Jahrzehnte hatte ihm das Haus immer wieder signifikante und ästhetische Ausstattungen zu verdanken, und auch die späte Zürcher Erstaufführung von Jules Massenets «Le Cid» ist geprägt von seiner künstlerischen Handschrift. Doch als Intendant Alexander Pereira zu Beginn der Vorstellung vor den Vorhang trat, hielt er keine Gedenkrede auf Andreas Reinhardt, vielmehr teilte er mit, dass der Tenor José Cura wenige Stunden zuvor seinen Vater im fernen Argentinien durch einen plötzlichen Tod verloren hatte. Dem Verstorbenen zu Ehren werde der Künstler aber trotzdem auftreten.

Tragischer Titelheld

So wurden der Darsteller und seine Figur, der spanische Nationalheld El Cid, auf eigenartige Weise eins. Denn von Vätern und von der Pflicht, welche die Kinder ihnen gegenüber zu erfüllen haben, handelt Massenets Oper nach den Dramen von Corneille und Guillén de Castro zu wesentlichen Teilen: Der kastilische Grande Rodrigue liebt Chimène, die Tochter des Grafen Gormas. Als dieser den greisen Vater von Rodrigue beleidigt, verlangt der Gedemütigte, dass Rodrigue seine Ehre rette und den Grafen zum Duell fordere. Dabei wird Gormas getötet. Nicht ahnend, wer der Mörder ist, schwört Chimène Rache. So kulminiert in ihr der klassische Konflikt zwischen Liebe und Pflicht, den auch der Titelheld und, weniger existenziell, die ebenfalls in Rodrigue verliebte Infantin auszutragen haben. Gelöst wird der dramatische Knoten, indem Rodrigue für den König in den Krieg zieht und den aussichtslos scheinenden Kampf gegen die Mauren gewinnt. So erringt er sich nebst dem Ehrentitel Le Cid schliesslich doch die Hand Chimènes.

Nicht das Werk und seine Wiedergabe, sondern die tragischen Umstände der Aufführung haben dem Abend im Opernhaus Ausnahmecharakter verliehen. «Le Cid» zeigt einen ganz anderen Massenet als den von «Manon» und «Werther», den populärsten seiner zahlreichen Werke. Sentiment und einschmeichelnde Kantilenen treten hier hinter dem heroischen, zum Teil gar martialischen Gestus der Musik zurück. Die heute in Vergessenheit geratene Oper greift denn auch auf das traditionelle Schema der Grand Opéra mit ihren grossen historischen Tableaus zurück. Und mit seinen historisierenden, nicht das Mittelalter der originalen Handlungszeit, sondern das prunkvolle «Siglo de Oro» in Verbindung mit der Entstehungszeit der Oper, dem ausgehenden 19. Jahrhundert, zitierenden Kostümen trägt Reinhardt den Gattungskonventionen Rechnung. Die Bühnenarchitektur jedoch ist klassizistisch streng. Ein raffiniertes Netz von feinen Linien, die auf einen fernen Fluchtpunkt zielen, markiert die Raumhülle, die durch verschiebbare Zwischenwände und einige wenige Requisiten gegliedert wird.

Grand Opéra – stilisiert

Nicolas Joel, der Intendant des Théâtre du Capitole von Toulouse, das die als Koproduktion deklarierte Inszenierung später übernehmen wird, arrangiert die Massenszenen, in welchen der verstärkte Chor sein eindrückliches Potenzial beweist, dekorativ und konventionell, wie man es von seinen früheren Zürcher Arbeiten gewohnt ist. Vor allem aber sorgt er dafür, dass die Protagonisten immer schön im Vordergrund stehen. Doch da wird die Beurteilung der Aufführung schwierig. Wo ist an diesem Abend die Grenze zwischen José Curas eigener und seiner Rollen-gegebenen Verzweiflung verlaufen? Überwältigend war jedenfalls die Emotionalität, mit der er seinen Part gestaltete. Schmelz und Geschmeidigkeit durfte man in dieser Situation von seinem Tenor kaum erwarten, sein Gesang war auch physisch ein Kraftakt.

Doch die Lautstärke war nicht allein Curas Problem. Michel Plasson diktierte sie mit seinem zwar schwungvollen, doch wenig sensiblen Dirigat, das den Orchesterklang oft knallig und massig werden liess und auch nicht letzte Präzision erreichte. Isabelle Kabatu, die mit grosser Allüre agierende Chimène, geriet rasch ins gleiche Fahrwasser, so dass ihr in der Mittellage warm timbrierter Sopran sich in der Höhe verhärtete und kaum farbliche Schattierungen entwickelte. Nur in der ersten Szene des dritten Aktes, vor Rodrigues Abschied, pflegte das Protagonistenpaar auch die leisen, zarten Töne, und daraus resultierte eine eigene, verinnerlichte Intensität. Wohltuend wirkte Isabel Reys lyrisches Timbre, das ihrer fast karikaturhaft als Velázquez-Reminiszenz kostümierten Infantin menschliche Züge verlieh. Aus dem weiteren Ensemble fielen Vladimir Stoyanov als König positiv, Andreas Hörl als Don Diègue negativ auf, jener mit seinem resonanzreichen, gleichmässig durchgebildeten Bariton, dieser mit seinem unstabilen Bass und seiner ungelenken Darstellung. – Zu einer Wiederbelebung dürfte die Zürcher Einstudierung Massenets «Cid» nicht verhelfen.