Die Ehre ist Pflicht, die Liebe nur Vergnügen

Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (15.01.2008)

Le Cid, 13.01.2008, Zürich

Erstmals zeigt das Zürcher Opernhaus «Le Cid» - eine etwas ambivalente Oper von Jules Massenet, die allerdings wunderbare Partien enthält.

Eigentlich, so denkt man, ist das der Stoff für eine Barockoper: die Geschichte von El Cid alias Rodrigo Díaz de Bivar, der im Auftrag christlicher und später maurischer Fürsten auf der Iberischen Halbinsel aufräumte, indem er zahllose Schlachten schlug und gewann, und der im 12. Jahrhundert die militärisch prägende Figur Spaniens war. Aber Achtung: Zwar hat Pierre Corneille 1636 eine ungemein erfolgreiche Tragikomödie aus dem Stoff gewonnen. Aber Händels Oper «Rodrigo» erzählt nicht von «Le Cid», sondern von einem Westgotenkönig, und auch sonst entdeckten die Komponisten den Stoff erst Ende des 19. Jahrhunderts - vermutlich infolge einer Spanienbegeisterung, deren bedeutendstes Zeugnis wir in Bizets «Carmen» haben. Sogar Debussy arbeitete später an einer Oper «Rodrigue et Chimène», die er aber unvollendet hinterliess.

In Jules Massenets Stück von 1885 erleben wir wie bei Corneille den jungen Rodrigo bzw. Rodrigue (José Cura), der gerade zum Ritter geschlagen wird. Solche Ehrbezeugung zu Beginn ist in der Oper meist Ausgangspunkt tragischer oder zumindest dramatischer Konflikte. Am Ende der insgesamt drei Stunden wird Rodrigue in einer entscheidenden und eigentlich aussichtslosen Schlacht die Mauren besiegt, den Namen El Cid erhalten und die Liebe von Chimène (Isabelle Kabatu) wiedergewonnen haben.

Väter, Kinder

Der Konflikt ist interessant, denn gleich mehrfach verbirgt sich dahinter die ehrbefrachtete Beziehung eines Kindes zum Vater. Es geht um Gehorsam. «L’amour n’est qu’un plaisir, l’honneur est un devoir»: Die Liebe ist nur ein Vergnügen, die Ehre eine Pflicht, heisst es bei Corneille. In der Oper konkretisiert sich das so: Der Comte de Gormas, Chimènes Vater (Cheyne Davidson), fühlt sich am Hof übergangen und demütigt seinen Konkurrenten Don Diègue (Andreas Hörl); dessen Sohn Rodrigue kann die beleidigte Ehre wiederherstellen, indem er den Comte im Duell tötet. Dadurch verliert er natürlich die Liebe Chimènes, die den König (Vladimir Stoyanov) öffentlich um Gerechtigkeit anruft, worauf Rodrigue in den Kampf gegen die Mauren geschickt wird, den er trotz geringer Truppenstärke mit Bravour und dank der Hilfe des heiligen Jakob gewinnt, wodurch alle … Nun ja: Am Schluss verzeiht ihm Chimène, und es gibt ein Happyend.

Nur die Infantin (Isabelle Rey), die Rodrigue ebenfalls liebt, muss aus Standesgründen - also noch einmal: dem Vater zuliebe - verzichten. Das weiss sie allerdings schon in der ersten Szene, und so bleibt diese Rivalität mit Chimène eine kurze Episode, die für die Gefühlslage des Stücks kaum eine grosse Rolle spielt. Immerhin gibt es Rey die Gelegenheit zu einer berührenden Szene, und sie ist auch durch ihr blaublütiges, reifröckiges Kostüm die einzige Gestalt, die einen Farbtupfer in diese grau-schwarze Szenerie bringt.

Viel ist von Ehre und von Kampf die Rede, viel Offiziöses ist in dem Stück. Und von daher erstaunt es eigentlich, dass gerade Jules Massenet, dieser Vertreter eines eleganten und weich-expressiven Stils, dieser Kenner der (vor allem weiblichen) Psyche und der Liebesleidenschaften (Manon, Thérèse, Werther), sich mit diesem Stoff auseinander setzte. Die Musik erreicht denn auch ihre grösste Dichte in den intimen Momenten, im dritten Akt vor allem, wo Chimène und Rodrigue sich auszusprechen versuchen, wo all der Zwiespalt zwischen Ehrerfüllung und Liebesgefühl aufbricht. Und dann in der Soloszene des Rodrigue, der sich vor der Schlacht in sein Schicksal gibt: Sein «Ô souverain, ô juge, ô père» ist einer der Hits der Oper, der auch gesungen wurde, als das Werk über Jahrzehnte in den Archiven verstaubte. Da ist Massenet ganz bei sich. José Cura sangs mit Innigkeit.

Aufgepeitscht und oberflächlich

Das soll nicht heissen, dass die übrigen Teile schlecht komponiert wären. Im Gegenteil. Es gibt prächtige Chorszenen, die der Chor des Opernhauses schön bewältigt; einige Melodien bleiben im Gedächtnis haften, Aufmärsche und auch einige Prunkstellen. Das Stück enthält so etwas Repräsentatives, selbst wenn daraus die ebenfalls populäre Ballettmusik, die in der Grand Opéra üblich war, gestrichen wurde.

Die Musik ist momenteweise gewaltig und anspornend, ja es klingt schmissig, denn Michel Plasson, ein Spezialist für die französische Oper, schmeisst das so hin: mit Verve aufgepeitscht und doch erstaunlich oberflächlich. Er scheint uns dabei mehr den Rest an Grand Opéra vorführen zu wollen als die modernen Aspekte von Massenets Musik. Und man bekommt auch kaum den Eindruck, dass die Musiker sonderlich in ihre Kantilenen verliebt wären. Das Seelenleben vibriert nicht mit, zumindest nicht im Orchestergraben. Es fehlt dem Abend häufig an Geschmeidigkeit.

Leicht zu inszenieren ist das Stück nicht. Nicolas Joel tut sich etwas schwer damit, allzu viel will ihm nicht einfallen. Er betreibt keinen Deutungsaufwand; die Aufführung ist gerade so gestaltet, dass es nicht stört. Einen Akzent setzt das Bühnenbild des kürzlich verstorbenen Andreas Reinhardt. Es zeigt auf abstrakte, geometrische Weise eine faszinierend sich verengende Perspektive, in deren Fluchtpunkt gelegentlich Transzendentales (himmlisches Licht, die Madonna) aufscheint. Sie dient aber kurz auch zur Andeutung eines Zelts.

So einfach dieses Bühnenbild gestaltet ist, es hat doch seine Tücken. Die beiden hohen Stellwände, die immer wieder vor- und zurückbewegt werden, verdecken die Sicht und behindern die Handlung. Gehemmt wirkte so vor allem die Personenführung, besonders deutlich bei Chimène: Isabelle Kabatu ist stimmlich stark und in den heftigen Ausbrüchen sicher, hält aber nur wenige Zwischentöne parat und ist zudem eine ungelenkte Darstellerin. Den Zwiespalt zwischen Innigkeit und Pflicht konnte sie nicht ausloten.

Ein durch und durch überzeugender junger Heldentenor, impulsiv und leidend, ist dagegen José Cura, der der Partie seine ganze Strahl- und Ausdruckskraft verlieh. Der Vater des Sängers war am Sonntag gestorben, José Cura sang trotzdem; er liess die Premiere nicht platzen und reiste erst gestern nach Argentinien heim. Mit dem Schlussapplaus kamen die Emotionen hoch, und spürbar wurde auch eine Solidarität, die den ganzen Abend durch hinter den Kulissen, ja wohl im ganzen Haus geherrscht haben musste. Schliesslich nahm Cura die Haube vom Souffleurkasten und dankte auch dort. Da wurde für einmal die Dynamik dieses Gemeinschaftsprojekts Musiktheater erkennbar.