Herbert Büttiker, Der Landbote (15.01.2008)
Zu den zahlreichen Werken von Jules Massenet, die kaum mehr auf die Bühne kommen, gehört «Le Cid». Das Opernhaus Zürich zeigt mit einer musikalisch-szenisch hervorragenden Aufführung, dass die Absenz ihre Gründe hat.
Welch eine Bühne! Die Räume im perspektivischen Raster wie mit feiner Hand gezeichnet, die axiale Symmetrie, die ein Lichtquadrat im Hintergrund abschliesst, ein Sog, die schiebbaren Paravents als Raumteiler von verblüffender Einfachheit, das Licht in allen Stimmungsgraden voller Magie und fein akzentuiert bis zu den rot glimmenden Speerspitzen zweier Soldaten. Das Schwarz-Weiss der historischen Kostüme im Mix der Epochen, das nur im Blau bei der Infantin eine Ausnahme macht, wirkt malerisch, ohne das grosse Tableau zu überladen, und verschafft den Einzelfiguren starke Präsenz.
So Chimène: Ein flackerndes Licht, eine Zypresse im Hintergrund gehört zur nächtlichen Szenerie, in der sie den Tod ihres Vaters und noch mehr das zerstörte Liebesverhältnis zu Rodrigue betrauert. Der junge Held, der später El Cid genannt werden wird, hat ihren Vater im Duell getötet, um seinerseits die Beleidigung seines Vaters zu rächen. Dass er dann das Leben in die Schanze wirft, um die Liebe zu retten, und sie sich am Ende überwindet, dem Sieger in der Schlacht die Hand zu reichen, ist der weitere Verlauf der 1885 uraufgeführten Oper, für die vor allem Pierre Corneilles klassizistisches Stück «Le Cid» als Vorlage diente.
So pompös dieses Finale, so intim ist die von der Soloklarinette berückend schön eingeleitete Szene, in der Chimène endlich allein ist, wie sie sagt, um «zu seufzen ohne Zwang und zu trauern ohne Zeugen». Es kommt zur bewegendsten Szene des Abends, denn auch Jules Massenets Kunst, mit feinen melodischen Motiven, aber auch grossen Ausbrüchen Liebesschicksal im Gesangshimmel zu verewigen – man denkt hier an seine noch heute oft gespielte«Manon» (1884), an «Werther» (1892) – hat in dieser Szene wie im gleich folgenden Abschiedsduett der Liebenden ihren grössten Zauber. Isabelle Kabatu und José Cura, die mit ihren Rollendebüts das Erbe von Placido Domingo und Grace Bumbry antreten, verpassen hier die Chance nicht, aus der Fülle ihrer grossen Stimmen die Essenz zu geben, warmtöniges Mezzavoce, ins Grosse aufblühende Kantabilität. Einen weiteren lyrischen Höhepunkt lässt Cura im nächsten Bild mit «Ô souverain, ô juge, ô père» folgen.
An die Dichte der zypressendunklen Szene und der Tenorarie kommt manches nicht heran, was die beiden mit stimmlich mächtigerem Aufwand verbinden, Kabatu da und dort mit Schärfen, mit verquollenem Klang Cura, aber mit viel Verve im Ganzen.Am Werk sind zwei starke sängerische Rollengestalter, und das Gefälle ins Kühle, das an dieser Aufführung auch festzustellen ist, hat andere Gründe.
Massenet komponierte hier für die Grosse Oper. Gesangsdramatik im grossen Tableau, Chöre, Staatsaktion und eine entsprechend repräsentative Thematik standen im Vordergrund. In der Zürcher Aufführung sorgt der Dirigent Michel Plasson dafür, dass der musikalische Prunk schlank und differenziert, aber mit zündender Schlagkraft über die Rampe und aus dem Orchestergraben kommt. Den Eindruck kühl kalkulierter Dramatik kann er nicht vermeiden, aber er ist ein engagierter Anwalt für die Musik des grossen Könners, dem auch der Chor des Opernhauses und die weiteren Protagonisten Ehre erweisen: darunter Isabel Rey (L’Infante), Andreas Hörl (Don Diègue), Vladimir Soyanov (Le Roi) und Cheyne Davidson (Gormas), alle in ein wenig undankbaren Partien.
Auch das Inszenierungsteam mit dem Regisseur Nicolas Joel, dem jüngst verstorbenen Ausstatter Andreas Reinhardt (Mitarbeiter Bernhard Kilchmann) und dem Lichtgestalter Jürgen Hoffmann tut sein Bestes. Die Subtilität des Dekorativen, die Symbolkraft der rationalen Axialsymmetrie, der Held mit dem Schwert an der Rampe – all dies stimmt mit einer Musik zusammen, die Ausdruck und ästhetischen Reiz elegant zusammenbringt. Einspruch gegen den Zeitgeist, dem Massenet gerade in dieser Oper problematischen Tribut zollt, erhebt die Inszenierung nicht. Das ist nicht unbedingt ein Mangel: Das Happy End, das sich aus extremer Erfüllung der gesellschaftlichen Norm, aus religiös verbrämtem Schlachtensieg und erhabener Liebe fügt, bleibt auch so im kühlen Glanz nicht ohne Irritation.
Der grosse Applaus war verdient. Aber die Standing Ovations für José Cura waren wohl weniger Beifall für den Helden, den er auf der Bühne verkörpert hatte, als Beileid. Vor der Aufführung hatte der Intendant bekannt gemacht, dass Cura am Morgen die Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten, sich aber entschlossen habe, die Aufführung trotzdem zu singen und sie zu retten.