Wim Bim ist ding dong und die Oper ein Vergnügen

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (29.01.2008)

Im Schatten des Maulbeerbaums, 27.01.2008, Zürich

Gelungene Uraufführung am Zürcher Opernhaus: «Im Schatten des Maulbeerbaums» von Edward Rushton und Dagny Gioulami ist eine Kinderoper auch für Erwachsene.

Manchmal hat der konzeptlose Umgang, den das Zürcher Opernhaus mit der musiktheatralischen Gegenwart pflegt, auch sein Gutes. Er hat es zum Beispiel ermöglicht, dass der in Zürich lebende Engländer Edward Rushton (Jahrgang 1972) sozusagen zum Hauskomponisten geworden ist. Vor sieben Jahren gewann Rushton zusammen mit seiner Frau und Librettistin Dagny Gioulami (1970) und dem Einakter «Leinen aus Smyrna» den Nachwuchswettbewerb «Teatro minimo», der in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatsoper München ausgerichtet worden war. Der Preis bestand im Auftrag für eine abendfüllende Oper; «Harley» hiess sie und wurde 2005 so erfolgreich uraufgeführt, dass seither Werke der beiden auch in Hannover, Birmingham, Bregenz, London und Kassel ur- und nachaufgeführt wurden. Und weil die zweite Runde des Wettbewerbs, der eigentlich alle zwei Jahre hätte stattfinden sollen, nach wie vor auf sich warten lässt, kam das Duo Rushton/Gioulami nun zu einem weiteren Zürcher Auftrag.

«Ich zähle bis zehn!»

Sie haben die Ehre verdient. «Im Schatten des Maulbeerbaums», eine Oper für nicht mehr ganz kleine Kinder und Erwachsene, hat exakt die Qualitäten, die schon in den früheren Stücken aufhorchen liessen: einen klugen, witzigen Text, und eine ebenso kluge, theaterwirksame Musik. Die Geschichte basiert auf einem chinesischen Märchen. Um einen Herrn Bim geht es da, der einem Alten den Schatten seines Maulbeerbaums verkauft - und diesen Alten, da der Schatten wandert, plötzlich in seinem Haus vorfindet.

Dagny Gioulami erzählt die Geschichte aus der Kinderperspektive, und die eigene Spielplatzerfahrung macht sich hinreissend bemerkbar dabei. Wim Bim ist zehn Jahre alt, spielt mit einem Reifen und wird von den Nachbarsmädchen entsprechend gefoppt: «Wim Bim ist ding dong! Wim Bim ist ein Mädchen!» Auch die übrigen Dialoge haben hohen Wiedererkennungswert: «Komm sofort! Wie oft muss ich es noch sagen! Ich zähle bis zehn!», schreit die Mutter. «Soll ich bis zehn zählen», droht der Vater, und Wim selbst denkt sich Reimspiele von eins bis zehn aus. Einsam ist er, und vielleicht hat er sich den Alten auch nur ausgedacht: als einen, mit dem er seine Angst vor dem Dunkeln besprechen kann, der einen anderen, liebevolleren und geduldigeren Ton ins Familienleben bringt.

Rushton weiss, wie solche Töne umzusetzen sind: der hysterisch-giftige der Nachbarsmädchen, der bieder-gleichgültige des Vaters, der leicht esoterische des Alten. Vielfältig ist seine Musik, zugänglich auch, ohne je simpel zu werden. Rushton kennt keine Berührungsängste, weder in Richtung Avantgarde noch in Richtung Tonalität. Er zitiert und verarbeitet alles Mögliche, schreibt swingende Tanz-, stimmungsvolle Nacht- und geradezu strausssche Aufregungsmusik - und findet doch einen eigenen Ton dabei. Die musikalischen Pointen sitzen, und der Text bleibt (abgesehen von einigen etwas gar unruhigen rezitativischen Passagen zu Beginn) stets mühelos verständlich.

Ein attraktives Stück, das eine entsprechende Umsetzung erfährt. Engagiert und flexibel spielen die 21 Opernhaus-Musikerinnen und -Musiker unter ihrem ehemaligen Chefdirigenten Ralf Weikert. Und Aglaja Nicolet, seit 1993 Regieassistentin und Abendspielleiterin am Zürcher Opernhaus, findet nach «Leinen aus Smyrna» zum zweiten Mal treffende Bilder für ein Rushton-Stück.

Zusammen mit dem Bühnenbildner Martin Kinzlmaier und der neuen Zürcher Kostümchefin Dorothea Nicolai versetzt sie «Im Schatten des Maulbeerbaums» in eine betont biedere, mediterrane Idylle: Weiss ist das Haus, gepflegt das Mäuerchen drum herum, und die Drehbühne lässt den Schatten des Maulbeerbaums geradezu realistisch wandern. Gleichzeitig kippt der Realismus immer wieder ins Märchenhafte - wenn die Glühwürmchen durch die Nacht tanzen oder wenn ein rätselhafter Besucher des Alten ganz in Gras gekleidet daherkommt. Und dann gibt es noch den satirischen Showdown mit dem Besuch des Gemeindepräsidenten, der «ganz inoffiziell» mit sämtlichen Orden anrückt, der Familie für die Aufnahme des offenbar dementen «Grossvaters» gratuliert und ungerührt weiterkaut, während es der Dame des Hauses im oberen Stock exakt über seinem Teller übel wird.

Nicht nur Karikatur

Das Vergnügen der Premiere-Zuschauer an dieser Szene war gross, jenes der Sängerinnen und Sänger sichtlich ebenfalls. Margaret Chalker ist eine grandios möchtegernglamouröse Mutter, Valeriy Murga gibt mit seinem betont gemütlichen «Herein in die gute Stube» den perfekten Spiesser-Vater, und als Töchter des salbungsvollen Gemeindepräsidenten Rolf Haunstein übertreffen die unglaublich nervigen, unglaublich hoch singenden Sen Guo und Rebeca Olvera noch die schlimmsten Spielplatz-Exemplare. Für vokale Ruhe in all diesen Turbulenzen sorgt Morgan Moody als etwas gar junger Alter. Und dann ist da Andreas Winkler, der Tenor, der einen Zehnjährigen darzustellen hat - und das tatsächlich schafft, ohne je lächerlich zu wirken: mit einem Schmollgesicht, das nicht nur Karikatur ist, mit artistischen Einlagen, wie nur Knaben sie zu Stande bringen, und einer Stimme, die so verletzlich und trotzig sein kann, dass man diesen Wim sofort ins Herz schliesst.

So wäre alles bestens, wenn die Konzeptionslosigkeit des Zürcher Opernhauses nicht auch ihre Nachteile hätte. Acht Mal wird diese Kinderoper gezeigt - und nur eine einzige Kindervorstellung gibt es (6. Februar, 14 Uhr). Eine weitere Nachmittagsvorstellung ist für die Sponsoren reserviert, die dritte verlangt Preise der Kategorie IV (32 bis 198 Franken). Die übrigen Vorstellungen finden am Abend statt (drei teuer, zwei Volksvorstellungen, nur eine davon am Wochenende). Bis zur Aufführung hat die Sorgfalt gereicht; für eine sinnvolle Platzierung des Stücks im Programm leider nicht mehr.