Torbjörn Bergflödt, Aargauer Zeitung (29.01.2008)
«Im Schatten des Maulbeerbaums» ist eine zeitgenössische Oper für Kinder, die bei der Uraufführung in Zürich ihre Wirkung nicht verfehlte.
Im März wird er zwölf. Sport, namentlich Fussball, brennt ihm derzeit mehr unter den Nägeln als Hochkultur. Aber jetzt sitzt er, die Krawatte mit dem praktischen Gummizug um den Hals und «angefüttert» mit einer Libretto-Zusammenfassung, neben Papi als Juniorkritiker im Parkett des Zürcher Opernhauses. Auf dem Nachhauseweg die unvermeidliche Frage des Seniorkritikers: Daumen rauf oder runter? Rauf › allerdings so, dass der Finger schräg angewinkelt wird. Also Prädikat «gut» mit gewissen (alterstypischen?) Vorbehalten.
Das ist viel bei einer zeitgenössischen «Oper für Kinder»! Den Kindercode zu knacken, scheint hier also irgendwie gelungen › dem in Zürich wirkenden englischen Komponisten Edward Rushton (geboren 1972), seiner Frau Dagny Gioulami als Librettistin und dem Inszenierungsteam. Rushton hat keine Veränderung seiner Musiksprache vornehmen wollen, aber möglichst reduziert Klarheit angestrebt. Dass seine Musik einen sinnlich anspringen kann, hat schon 2005 der gleichfalls vom Opernhaus in Auftrag gegebene «Harley» gezeigt.
Wie bei «Harley» hat Gioulami einen gut gearbeiteten Text geschrieben. Unter Zugrundelegung eines chinesischen Märchens erzählt das Libretto von einem Penner, der von einem Kleinfamilienvater den Schatten eines Maulbeerbaums abkauft und es sich nun hierin bequem macht, selbst wenn der Schatten ins Hausinnere wandert. Das ist lästig, ja macht reif für die Hausübergabe. Der Alte aber zieht weiter. Identifikationsfigur ist der zehnjährige Sohn, der verträumte und gehänselte Wim.
Die Regisseurin hat das Ganze als Märchen mit realistischem Vorder- und Hintergrund aufgezogen. Und mit einem Hoffnungssignal am Ende: Indem Wim einen neuen Baum pflanzt. Nicolet nimmt die Rituale einer in sich selbst gefangenen Kleinfamilie aufs Korn, zeigt Frau und Herrn Bim als Menschen, die das Staunen verlernt haben. Martin Kinzlmaiers Bühne und Dorothea Nicolais Kostüme atmen ein wenig die Atmosphäre jenes Südfrankreich, wie es in Filmen von Jacques Tati aufscheinen kann. Passend zum Wandern des Schattens wird die Drehbühne genutzt.
Andreas Winkler schafft bei der Figur des Wim schöne Näherungswerte an den ganz eigenen Kosmos von Kindern. Morgan Moody ist der Alte: Wims weiser Freund und zugleich, bei klingendem Bassbariton, ein naturhaftes Wesen. Valeriy Murga und Margaret Chalker geben die Rollen von Herrn und Frau Bim mit karikaturistischer Würze. Vokal und darstellerisch überzeugend in ihren Mehrfachrollen Rolf Haunstein (mit konturierter Textdeklamation) sowie Sen Guo und Rebeca Olvera (auch mit flinken Koloraturen).
Es gibt bei Rushton die breit deklamierte, «klangmagische» Passage oder das kecke Jazz-Idiom, die emblematische Wortausdeutung oder das Spiel mit distinkten Farbwerten. Eine Partitur, die das Libretto kommentiert und stützt und doch auch Eigensubstanz beisteuert. Das Orchester ist eine 21-köpfige Kammerformation mit reichhaltigem Perkussionsapparat. Unter Ralf Weikert leisten auch die Musiker genaue und in gewissen Soli virtuose Arbeit.