Stinkt Kunst wirklich?

Chantal Steiner, VOX SPECTATRITIS (21.11.2005)

Harley, 20.11.2005, Zürich

Gestern bot das Opernhaus lobenswerter Weise wieder eine Uraufführung an. Es ist diesem Haus nicht genug zu danken, dass es so etwas immer wieder ermöglicht, waren doch sowohl „Schlafes Bruder“ wie auch „Der Herrrr Nordwind“ Werke, die eine Auseinandersetzung mit der uns meist doch recht unbekannten „modernen Musik“ lohnten. (Zu Holligers „Schneewittchen“ fand ich – trotz mehrmaligen Anhörens – den Zugang nicht).

Musikalisch kann ich mich über das gestern zur Aufführung gekommene Werk „Harley“ des 33-jährigen Edward Rushton wiederum nicht wirklich äussern, fehlen mir doch dazu ganz einfach die Grundlagen. Ich kann mich jeweils bei der ersten Begegnung mit einem solchen Werk nicht gleichzeitig auf Bühne, Text und Musik konzentrieren. Daher muss ich alleine auf eine Beurteilung des „Bauchs“ zurückgreifen: die Musik ist „hörbar“, also absolut nicht atonal. Sie ist spritzig, unterstreicht hervorragend den überaus witzigen Text, hat bestechende Einfälle und wirkt homogen. Sie neigt manchmal etwas zu Längen, was aber auch am bisweilen erläuternden Text liegen kann. Auf alle Fälle ist es ein Stück, das es sich mindestens zweimal anzuhören lohnt. Der Dirigent Nicolas Cleobury vermochte die anspruchsvolle Partie mit Verve und Leidenschaft umzusetzen, und das Orchester meisterte die Aufgabe mit Spielfreude und viel Engagement.

Mir ist nicht ganz klar, was die Librettistin Dagny Gioulami mit dem Stück bezweckte. Ist es eine Persiflage auf die Kunst im Allgemeinen, auf die so genannten Kunstverständigen? Ist es eine Gesellschaftskritik, eine Hommage an Fernando Botero oder auf das „Fussvolk“, das der Kunst dient, oder ist es ganz einfach ein modernes Märchen? Nichtsdestotrotz habe ich mich (und auch das Premierenpublikum) köstlichst amüsiert. Die Texte und Einfälle sind stupend, witzig, berührend – kurz bestens geeignet, um einen vergnüglichen Abend zu verbringen. Das Libretto ist auf Deutsch; verdankenswerter Weise verzichtet das Opernhaus aber nicht auf deutsche Übertitel.

In einem südamerikanischen Museum tritt ein neuer Museumswächter seinen Dienst an (Gabriel Bermúdez mit ausdrucksstarkem, wenn auch etwas monochromem Bariton, bewältigt die enormen Anforderungen bestens). Er wird von einem Dienstkollegen (sonor und witzig: Reinhard Mayr) in seine Aufgaben eingewiesen. Es gilt, den Ausstellungsraum mit dem berühmten Bild des Malers Medelin „Industriellenfamilie im grünen Salon“ zu bewachen und sich ja nicht auf dem Polster auszuruhen! Zudem ist darauf zu achten, dass die Besucher weder telefonieren, noch zu nahe an die Bilder treten und auch nicht fotografieren. Hector Alvari stammt von einer berühmten Malerfamilie ab, will aber mit seinen Eltern nicht in Verbindung gebracht werden. Er hadert damit, dass man jungen Leuten viel Verständnis entgegenbringe, wenn diese einen anderen Weg im Leben einschlagen als ihre Eltern; es aber an Verständnis fehle, wenn diese Kinder von Künstlern abstammen. Er übersieht dabei, dass er selbst seiner Tochter gegenüber genau das gleiche Muster einschlägt und nicht begreift, dass auch sie ihren eigenen Lebensweg sucht.

Aus dem Bild heraus versucht die Tochter des Industriellen, Lili (anrührend verkörpert von Irène Friedli, die mit ihrem wohl geführten, angenehmen Alt sehr für sich einzunehmen wusste), mit Hector Kontakt aufzunehmen. Dieser nimmt zuerst an, dass Kameras und Lautsprecher installiert seien; als er merkt, dass das „Bild spricht“, geht er von Halluzinationen aus. Dass das „Bild“ lebt und nur während der Öffnungszeiten des Museum posiert (sicherlich eine sehr ungewohnte und anstrengende Tätigkeit für die 4 Protagonisten), kann er ja nicht wissen. Erst als Lili zu weinen anfängt und dadurch das Bild aufzuweichen droht, beginnt Hector, sich auf den Dialog mit dem Bild einzulassen; ein Dialog, der jedoch immer wieder durch Telefonanrufe von Hectors Tochter unterbrochen wird, die von ihm eine Unterschrift möchte, damit sie an das Legat ihrer Grossmutter kommt. Mit diesem Geld will sie nicht etwa ihr Studium finanzieren, sondern mit einem Motorrad durch die Gegend kutschieren („Reisen bildet!“), was der Vater nicht tolerieren will.

Lili klagt Hector ihr Leid. Sie kannte seine Mutter und wollte mit ihr in die Stadt flüchten, um an der Kunstakademie zu studieren. Ihr Vater Gustavo (bärbeissig: Rolf Haunstein) will sie nicht los lassen und bewegt sie zum Bleiben, indem er den grossen Meister Medellin ins Haus gebeten hat, der das Portrait der Familie malen soll. Leider verunglückt dieser kurz darauf mit seinem Wagen, und seitdem ist die Familie gefangen. Die Mutter (etwas schrill: Margaret Chalker) begnügt sich damit, die Blumen zu ordnen, während der kleine Bruder Gustavito (Andreas Winkler, mit jungenhaftem, naivem Spiel und solidem Tenor) verbringt die Zeit damit, Süssigkeiten in sich zu stopfen. Lili jedoch versucht, diesem Gefängnis zu entkommen.

Während des Dialogs zwischen Wächter und Tochter kommen immer wieder Besucher vorbei (vorzüglich das Duo Christiane Kohl und Stefania Kaluza in immer wechselnden Rollen; auch ihnen ist die Freude am Spielen anzumerken), die mehr oder weniger Seichtes oder Frivoles von sich geben.

Gustavito schliesslich gibt unbewusst die Lösung für Lilis Problem preis: man müsste ein neues Bild malen. Hector kommt am nächsten Morgen mit diesem Bild (der gleiche Salon, ohne Protagonisten) und bittet die Bewohner, doch im neuen Bild Platz zu nehmen. Die Mutter ist erst dazu bereit, als der grüne Salon in einen blauen Salon „umtapeziert“ wird und mit Margeriten bestückt ist; Gustavito wird mit einem weissen Papagei geködert. Diesem versucht er umgehend „Guten Tag“ und „Kunst stinkt“ beizubringen. Der (echte) Papagei bleibt zwar stumm, dafür „spielt“ das Orchester den Papagei… Hartnäckig weigert sich Vater Gustavo, sich für eine Fälschung herzugeben. Er bleibt im Original und lebt dafür. Er ergeht sich in Verwünschungen gegen Hector, der ihm kurzerhand einen Knebel verpasst. In der Zwischenzeit hat sich – durch den Dialog mit Lili und deren Schicksal – seine Einstellung zu den Wünschen seiner eigenen Tochter geändert. Er gibt ihr, obwohl er sie nicht wirklich versteht, die ersehnte Unterschrift und bekommt dann im Gegenzug quasi als Belohnung die Lösung, wie er den starrköpfigen Gustavo bezwingen kann. Er malt ihm einen lang ersehnten Traum: eine Harley Davidson. Mit dieser fährt dann Gustavo in das andere Bild (kleine Frage zwischendurch: Wer von Ihnen hat je ein Motorrad in einem Salon gesehen?). Nun steht der „Auslöschung“ Lilis nichts mehr im Wege… an ihrer Stelle werden Blumen gemalt und sie verschwindet aus dem Bild.

12 Jahre später wird die Fälschung im Kunstführer mit den gleichen Worten gelobt, wie damals der „grüne Salon“. Zwischenzeitlich hat aber Lili ihren Weg als Künstlerin gemacht und ihrerseits einen „Albtraum im grünen Salon“ gemalt, der jedoch – im Gegensatz zum Bild „Industriellenfamilie im blauen Salon“ – bereits in der Tate Gallery hängt…

Die Handlung schliesst ohne Musik, mit Worten… ziemlich abrupt, aber stringent.

Wie setzt man eine solche Handlung um? Grischa Asagaroff hat sich mit Martin Kinzlmaier (Bühnenbild) und Bettina Latscha (Kostüme) der Aufgabe bestens erledigt. Um eine Oper „werkgetreu“ umzusetzen, ist es sicherlich von Vorteil, wenn sowohl Librettistin wie auch Komponist leben und kräftig mithelfen können. Aber trotzdem ist ein solches imaginäres Werk nicht einfach in Bilder umzusetzen. Im Opernhaus ist es auf sehr bestechende und ästhetische Weise gelungen, die Welt des Museums und des Bildes einzufangen. Der Traum anfangs des zweiten Aktes ist allerdings nur zu verstehen, wenn man vorgängig das Libretto gelesen hat!

Lassen Sie sich überraschen und wagen Sie einen Sprung zur Musik des 21. Jahrhunderts in Dekors der 1950er Jahre. Es lohnt sich wirklich!

Verdienter Applaus für alle Protagonisten (alles „nur“ Ensemblemitglieder), die eine sehr harmonische und homogene Leistung vollbrachten. Hut ab vor der gesanglichen, musikalischen und darstellerischen Umsetzung!