Bewegung im Familienbild

Herbert Büttiker, Der Landbote (22.11.2005)

Harley, 20.11.2005, Zürich

Beim Anblick der glänzenden Maschine kann der steife Herr Papa nicht widerstehen, und das Familienleben erhält den ge wünschten Schub zum Happy End: Zürichs Opernhaus ent lässt gut gelaunte Gäste aus der Uraufführung von «Harley».

Eine «leise Komödie» haben der Komponist Edward Rushton und die Librettistin Dagny Gioulami angekündigt. Dissonant und schrill geht es dann doch manchmal zu und her: Familienleben! Aber als Hörer und Zuschauer blickt man aus schöner Distanz auf diese Sache, nicht mit aufgeregt, da und dort auflachend, im Ganzen aber mit leisem Vergnügen – am vielfältigen Klanggeschehen und an der augenzwinkernden Heiterkeit des Treibens am doppelten Schauplatz. Das Museum ist an sich schon ein Ort für allerlei Satire. Wenn nun aber eines der Bilder selber noch zur Bühne wird, auf der die Abgebildeten zum Leben erwachen, dann ist Surrealismus angesagt oder eben ein Spiel über die normalen menschlichen Verworrenheiten.

Erstarrung und Aufbruch
Das letzte Bild des berühmten Malers Medelin ist ein Familienporträt: Eltern und zwei Kinder im blauen Salon, der Vater ein Industrieller mit Zigarre und dicker Brille, die Tochter 18 und unglücklich: Festgebannt im Porträt, das im Museum hängt, drängt sie zum Ausbruch. Also spricht sie den neuen Aufseher Hector an und bittet ihn um Hilfe. Dieser ist selber Vater einer Tochter, die eigene Wege gehen will. Während der Tochter aber mit der widerstrebend hingesetzten Unterschrift einfach geholfen ist, sind für das familiäre Problem auf dem Bild kompliziertere Operationen nötig. Hector, Sohn eines Künstlerpaars, der zwar das Talent der Eltern geerbt hat, aber nicht in ihre Fusstapfen treten wollte, malt das Bild um: Die Tochter ist nicht mehr im Bild, der jüngere Bruder hat seinen Papagei, die Mutter ist glücklich über die neue Tapete, und auch der Vater lässt sich schliesslich zum Umzug ins neue Bild bewegen dank einer chromstahlblitzenden Harley, die ihm Hector gemalt hat.

Erstarrung und Aufbruch, Generationenkonflikt, die Überlegenheit des jungen Lebens: die Geschichte dieser neuen Oper ist die Geschichte der Komödie schlechthin – beinahe: denn ein Almaviva ist für diese Rosina (noch) nicht in Sicht, und Hector ist nicht gerade der pfiffige Figaro. Er steckt als Sohn wie als Vater selber im Lebenssumpf und ergreift eher widerstrebend und lustlos für die Jugend Partei.

Rossinis sprühende Vitalität ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Die Musik ist zwar betriebsam, der Sprechgesang macht Kapriolen mit Rhythmen und Intervallen, und im Orchester gibt es – präzis platziert vom Dirigenten Nicholas Cleobury – alle erdenklichen Effekte, aber es ist eine Musik, die mehr kommentiert und konterkariert, als dass sie Emotionen und Dramatik befeuert. Nicht alle musikalische Ideen sind so sinnfällig, wie das Klaviergeklimper in der obersten Oktave, das die aufge regte Stimme von Hectors Tochter im Handy imitiert, oder das Hämmern der Schreibmaschine zum Kunstgewäsch des Katalogtextes. Eher verblüfft hört man die Geräusche von Elektroapparaten und manches mehr. Die erklärte Vorliebe des Komponisten, «Beiläufigem grösstes Gewicht zu verleihen, und Wichtiges eher beiläufig zu behandeln», ist entscheidend für das Verständnis, oder wenn man will, das kultivierte Unverständnis der Komposition. Das grosse Arioso singt nicht die unglückliche Tochter, sondern die junge Museumsbesucherin bei der Kataloglektüre, und in bester Traditionspflege des Spleens steht die «beiläufige» Harley-Hymne am Scheitelpunkt des musikalischen Geschehens.

Aber die Harley auf der Bühne ist echt. Überhaupt ist das Team Grischa Asagaroff (Inszenierung), Martin Kinzlmaier (Bühnenbild), Bettina Latscha (Kostüme) und Martin Geb hardt (Lichtgestaltung) mit Sorgfalt und Liebe zum Detail zu Werk gegangen. Dias Bühnenbild beziehungsweise für das Bild als Bühne ist das reinste optische Vergnügen, und wie sich das Spiel auf den verschiedenen Ebenen entfaltet, ist von grossem Reiz: im Bild wird der Kontrast zwischen starrer Pose und engleitender Kontrolle lustvoll ausgelebt, im Museumsraum der Einbruch des Surrealen und die Kunstsatire ausgekostet.

Ein hübsches Sortiment
Christiane Kohl und Stefania Kaluza stehen in wechselnden Rollen als Besucher, Professorin, Kuratorin und Studentin vor dem Bild: bewundernswert im komödiantischen Schliff von Stimme und Darstellung. Das gilt auch für alle weiteren in diesem hübschen Menschen-Sortiment: Da ist Rolf Haunstein als markiger Patriarch, der «im Original und für das Original» lebt, aber öfters aus der Fassung gerät, Margaret Chalker als seine Frau, die Blumen liebt und zum Hysterischen neigt, Andreas Winkler als der jüngere Sohn, dem in all den Turbulenzen ahnungsweise ein sexuelles Licht aufgeht, und dann Irene Friedli als Lili: Schlicht hervorragend, wie sie das Trotz-und-Traum-Repertoire der 18-Jährigen ausspielt.

Markant gibt Reinhard Mayr den kumpelhaften Museumswärter und Gabriel Bermudez – wohl etwas gar jung – den Kollegen Hector, die eigentlich vielschichtigste Figur, mit allen irgendwie verbunden, und dank seiner Tochter Emma (ebenfalls Christiane Kohl) auch mit einem Draht aus der Kunstwelt hinaus. – Dass dieser Draht dünn ist, gilt wohl auch für das Werk selber: eine reizvolle Kunstübung, wie unter einer Glocke, vom Gegenwartsgedränge abgeschirmt, aber dennoch witzig und lebensfreundlich.