Im Bild gefangen

Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (22.11.2005)

Harley, 20.11.2005, Zürich

Uraufführung von Edward Rusthons «Harley» im Opernhaus Zürich

Im Opernhaus Zürich ist am Sonntagabend «Harley», die im Auftrag des Hauses entstandene grosse Oper des Komponisten Edward Rushton und der Librettistin Dagny Gioulami, aus der Taufe gehoben worden. Der Auftrag war der Preis des 2000/01 gemeinsam vom Zürcher Opernhaus und der Bayerischen Staatsoper München veranstalteten Kompositionswettbewerbs «Teatro minimo»: Zunächst konnten Konzepte für Kurz- Kammeropern eingereicht werden, sechs wurden ausgewählt, realisiert und im Juli 2001 in München und Zürich gezeigt. Die Jury prämierte zwei Komponisten: Der Italiener Arnaldo de Felice schrieb für die Bayerische Staatsoper München «Medusa» (vgl. NZZ 15. 11. 05), der Engländer Edward Rushton für das Zürcher Opernhaus «Harley». Rushtons damaliges Wettbewerbs- Stück, «Leinen aus Smyrna», hatte auf engem Raum glänzendes Theater gezeigt, mit Witz, Wirkung, Tempo und inhaltlicher Dichte. Mit einer Tonsprache aus lauter bekannten Elementen, welche sehr theaterdienlich war. Nun hat er mit «Harley» seine erste abendfüllende Oper geschrieben.

Originaler Opernstoff
Die Librettistin Dagny Gioulami hat einen originalen Opernstoff erfunden: Ihre Geschichte von dem in einem südamerikanischen Provinzmuseum ausgestellten Familienporträt, dessen Figuren im Bild lebendig gefangen sind, ist eine Trouvaille. Die Bildwelt und die Aussenwelt nehmen miteinander Kontakt auf. Denn die dargestellte Tochter Lili möchte hinaus aus der patriarchalen Familienstruktur des Bildes und ihren eigenen Lebensweg gehen, was ihr schliesslich mit Hilfe des Museumswärters Hector auch gelingt. Geschichte wird übermalt und neu geschrieben. - In diesem Stoff steckt nicht nur viel Komödie, da wäre auch viel Tiefe, Reflexion über die Wahrnehmung oder die Kunstwelt «Oper» herauszuholen. Gioulami und Rushton zeigen vor allem das Komödiantische.

Witzige Nebengeschichten werden gross, der textlichen und musikalischen Pointen sind viele, und primär ist ein vergnüglicher, unterhaltsamer Abend zu erleben. Gleichzeitig will diese «melancholische Komödie» (Rushton) grosse Oper sein. Und es entstehen Momente, wo die Gattung auch ein wenig parodiert wird. So wird das Ensemble im zweiten Akt, wo die Protagonisten zu fünft im Unisono die neu gemalte Harley-Davidson bewundern, ein Höhepunkt des ganzen Werkes. Denn das ist Komödie in der Oper: ironisch und ernst gleichzeitig.

Edward Rushtons Musik malt mit vielen Farben, gekonnt. Sie hat eine gewisse Einfachheit (ist aber überhaupt nicht einfach zu spielen), wirkt mit langgezogener Melodik beinahe eingängig, und sie gibt den verschiedenen Situationen Raum, Breite oder auch kammermusikalische Intimität. Der Komponist benutzt Stil, um Stimmungen zu benennen oder um kleine musikalische Witze anzubringen. Eine besondere Rolle erhält im Orchester das Schlagzeug, das oft reale Geräusche kommentierend imitiert und eine Verbindung zur Alltagssprache des Librettos herstellt. Es mangelt Rushton nicht an Einfällen und Phantasie. Dennoch entsteht bei allen Qualitäten auch ein Problem: Das Erzähltempo ist für eine komische Oper und speziell für diese Geschichte zu langsam. Eine Komödie mit Alltagssprache und Sprachwitz braucht Geschwindigkeit. Wenn eine Pointe als grosse Sache breit dargestellt wird, hat sie ihren Witz verloren, ehe sie zu Ende erzählt ist. Wird ein Alltagsdialog durch die Musik beinahe bis zum Stillstand gedehnt, geht der inhaltliche Zusammenhang verloren. Sowohl die Musik als auch der Text gleiten weg vom Gestus des Erzählens, der für diesen Ansatz von Musiktheater allerdings zentral wäre. Bei allem Vergnügen, das dieser Opernabend bereitet, bleibt auch eine leise Enttäuschung darüber, dass viel Potenzial, das im Stoff steckt, vergeben wurde. Denn es hätte ein Werk von Offenbachschen Dimensionen werden können.

Einfallsreiche Regie
Die Inszenierung von Grischa Asagaroff im Bühnenbild von Martin Kinzlmaier nimmt das Werk ernst, stellt es primär dar und interpretiert nichts hinein, was nicht vorhanden ist. In diesem Darstellen indessen entwickelt Asagaroff einen Einfallsreichtum, der überzeugt. Selbst wenn das Stück etwas ins Stocken gerät, lässt er einen nicht los, sondern führt einen weiter. Auch wenn manches bewusst überzeichnet wird, hat man nie das Gefühl, es finde auf der Bühne ein Klamauk statt.

Und die Besetzung ist fabelhaft. Irène Friedli ist als Tochter Lili umwerfend gut, perfekt in der Diktion, vielfarbig, agil in der Gestaltung. Dass man Margaret Chalker als zickige Mutter Ester etwas weniger gut versteht, liegt nicht an ihrem vortrefflichen Gesang, sondern an der ihrem Charakter zugewiesenen sprunghaften Melodik, welche die Prosodie der deutschen Sprache oft missachtet. Herrlich die cholerischen Wutausbrüche von Rolf Haunstein in der Rolle von Vater Gustavo Escudero de la Torre Perez y de la Santissima Trinidad. Gabriel Bermúdez ist als Museumswärter Hector überzeugend. Im Orchester der Oper entsteht eine wunderbare Transparenz; Nicholas Cleobury, der die musikalische Leitung innehat, erzeugt eine stimmige Balance zwischen Bühne und Orchestergraben, stützt die Stimmen präzise und lässt das Orchester, wo nötig, in voller Pracht aufblühen.